Habilitationsschrift "Von den Ähnlichkeiten und Differenzen. Ehre und Drama des 16. und 17. Jahrhunderts in Italien und Spanien (Theorie, Geschichte, Synthese, Kritik und Weiterführung)" von Alfonso De Toro

Die Habilitationsschrift von Alfonso De Toro stellt für mich eine höchst erfreuliche Überraschung dar. Dabei möchte ich zunächst betonen, daß De Toros Habilitationsschrift über Formen des 'Ehrendramas' in Spanien und Italien eine der materialreichsten Studien ist, denen ich in meiner Gutachter- und Rezensententätigkeit je begegnet bin. Das gilt sowohl für das sensu strictiori literarische Material, bei dem der Vf. zumal im italienischen Seicento einen ausgesprochen abgelegenen Bereich erschließt, als auch für die Abundanz der Forschungsliteratur, welche von De Toro herangezogen wird. Bezeichnenderweise umfaßt das Schriftenverzeichnis der Studie mehr als hundert Seiten, und es spricht für die Intensität von De Toros Arbeit, daß dieser extraordinäre bibliographische Aufwand auch tatsächlich notwendig (oder zumindest funktional) ist. Selbst die obskursten in der Bibliographie angeführten Seicento-Dramen werden analytisch ausgewertet, um zur Verläßlichkeit und Differenziertheit von De Toros semiotischen Modellen beizutragen, und ebenso bemerkenswert erscheint die Gewissenhaftigkeit, mit welcher der Vf. sich - insbesondere im Abschnitt über die generischen Klassifikationsprobleme der spanischen Ehrendramen - auf eine detaillierte Diskussion zahlreicher anderer Forschungsansätze einläßt.


Bei einer derart materialreichen Studie pflegt stets der Verdacht nahezuliegen, daß die Fülle der Empirie mit Defiziten der theoretisch-methodologischen Durchdringung eines Gegenstandsbereichs erkauft ist. Von De Toros Habilitationsschrift wird diese Regelmäßigkeitsannahme aufs eindrucksvollste dementiert, und der Leser seiner Studie empfängt bald den beruhigenden Eindruck, daß der Vf. bei jedem Schritt seines durchaus komplexen Forschungsverfahrens genau weiß, was er tut. Den epistemologischen Rahmen seiner Untersuchung bildet eine historische Literatur- und Kultursemiotik, die vor allem von Lotman herkommt und hier speziell durch die Vorgaben der 'strukturalen Textanalyse' des Germanisten Michael Tietzmann bestimmt ist. Mit der Wahl dieses epitemologischen Rahmens hängt wohl der Eindruck einer gewissen terminologischen Starrheit zusammen, den die Habilitationsschrift auf den ersten Blick vermitteln mag, zumal durch ihre Insistenz auf mancherlei "Modellen", deren Funktionalität mir am Anfang meiner Lektüre ein wenig suspekt erschien. Folgt man den durchweg klar und bündig formulierten Argumentationen des Vf.s, stellt sich jedoch rasch heraus, daß De Toros Modellfreudigkeit nichts dogmatisches hat, sondern von guten heuristischen Gründen motiviert ist, und auch die scheinbare Starrheit der Terminologie zeigt nach und nach ihre produktiven Aspekte, die - systematisch genutzt - der nüchternen Stringenz von Gedankenführung und Thesenbildung zugute kommen. Außerdem befreit sich De Toro von jedem Anflug ahistorischer Dogmatik bereits durch die Vielfalt der Texttypen und der (juridischen, moraltheologischen oder moralphilosophischen) Wissenssysteme, welche er bei seiner Rekonstruktion der Diskurse über die Ehre in Betracht zieht. Dabei soll die imposante Gelehrsamkeit, die De Toro hier unter Beweis stellt, nicht in erster Linie zu einem Beleg kausaler Einflußnahmen führen. Worum es ihm vorrangig geht, ist vielmehr die möglichst präzise Ermittlung der Spezifizität, welche den verschiedenen Wissenssystemen und Texttypen jeweils zuzuschreiben ist. Je vielfältiger zwischen benachbarten Kultur- und Textsystemen verglichen wird, um so schärfer läßt sich - unter dem Distinktionspotential multipler Perspektiven - ja auch die Besonderheit des Einzelnen erfassen: ein semiotisches Grundprinzip, aus dem diese Studie ohne Zweifel den allergrößten Nutzen und Erkenntnisgewinn gezogen hat.

Um den Reichtum der Resultate, die De Toros Habilitationsschrift bietet, zu ermessen, sollte man sich im übrigen nicht an die allgemeine Zusammenfassung (S. 506 ff.) halten. Sie ist nur etwas für faule Leser und wird den - teils wirklich innovativen - Verdiensten der Studie kaum gerecht. Günstiger scheint es mir, die literaturwissenschaftliche Produktivität von De Toros Habilitationsschrift gleichsam an der Synekdoche dreier Beispiele zu verdeutlichen. Das erste Beispiel betrifft die vieldiskutierte Frage nach der Legitimität, welche die Tötung einer Ehebrecherin in den sozusagen offiziellen Moraldiskursen des Siglo de Oro beanspruchen durfte: eine Frage, die bekanntlich im Zusammenhang mit Lopes El castigo sin venganza und den Calderonschen Ehrendramen langwierige und nach wie vor unabgeschlossene Debatten ausgelöst hat. Aufgrund einer sorgfältigen Lektüre der von diesem Problem involvierten Traktatliteratur weist De Toro nun nach, daß die Tötung selbst der inflagranti überführten Ehebrecherin zumindest nach dem moraltheologischen Schrifttum der Epoche in keiner Weise legitim war (vgl. S. 151 - 168). Damit korrigiert De Toro Auffassungen, welche sich - gestützt vor allem auf die Autorität Américo Castros - einer beträchtlichen hispanistischen Popularität erfreuen und etwa in Hans-Joachim Müllers Darstellung Das spanische Drama des 17. Jahrhunderts oder zwischen göttlicher Gnade und menschlicher List (Berlin 1977) eine große Rolle spielen. Auch die Thesen, die Joachim Küpper neuerdings in seinem bedeutenden Buch Diskurs-Renovativo bei Lope de Vega und Calderón (Tübingen 1990) entwickelt hat, müssten nach De Toros detaillierten Forschungen zu den moraltheologischen und moralphilosophischen Kontexten der spanischen Ehrendramen wohl in einigen Punkten modifiziert werden.

Das zweite Beispiel betrifft den Beitrag, den De Toros Habilitationsschrift zur Italianistik leistet. Er erscheint mir so außerordentlich, daß meines Erachtens allein der italianistische Teil der Studie ausreichen würde, um den Verfasser mit vollem Recht zu habilitieren. Dabei denke ich etwa an De Toros Hinweise auf den weithin vergessenen Secentisten Giacinto Andrea Cicognini, die eine Art Monographie in der Monographie ergeben. Sehr anregend wirkt ebenfalls die distinktionsscharfe Typologie von drei Modellen der "tragicommedia" in Italien (vgl. S. 199 ff.), und überhaupt ist die Idee, italienische Tragödien und Tragikomödien des 16. und 17. Jahrhunderts als 'Ehrendramen' zu lesen, nicht nur geeignet, den üblichen italienischen Lektürehabitus reizvoll zu verfremden, sondern sie schafft auch tatsächlich neue Einsichten in signifikante "Ähnlichkeiten" und mehr noch "Differenzen" zwischen den spanischen und italienischen Mentalitäten im Zeitalter von Renaissance und Barock. Im Abschnitt über die halbwegs kanonisierten Tragödien des Cinquecento - Trissinos Sofonisba, Giraldi Cinthios Orbecche, Sperone Speronis Canace - beweist De Toro, daß er neben dem Talent der Modellkonstruktion in nicht geringerem Maße einen "esprit de finesse" zur eindringlichen Textinterpretation besitzt, welche die Aspekte der Ehrenthematik und die Aspekte der Leidenschafts- und Rache-Emphase à la Seneca bestens auseinanderzuhalten weiß. Für besonders interessant halte ich in diesem Abschnitt übrigens die Darstellung von Ludovico Dolces La Marianna, einer Tragödie, welche von allen Stücken des Cinquecento dem spanischen Typhus des Ehrendramas wohl am nächsten kommt (vgl. S. 255) und deshalb vielleicht noch einen ausführlicheren Vergleich etwa mit Calderóns El médico de su honra lohnen würde.

Mit dem dritten Beispiel spreche ich den eigentlichen Höhepunkt der Studie an: die Überlegungen zur "Gattungszugehörigkeit" der spanischen Ehrendramen und ihrer "Sorten" (vgl. bes. S. 342 - 371). Sie im Detail nachzuzeichnen und zu bewerten, ist hier nicht meine Aufgabe. Für die Zwecke des Gutachtens beschränke ich mich darauf festzustellen, daß diese Überlegungen ein schlechterdings vorbildliches Gleichgewicht zwischen Forschungsbericht, Forschungskritik und eigener Thesenbildung zu wahren verstehen. Besonders die Einwände gegen Alexander A. Parker und seine Schüler wirken auf mich sehr überzeugend, und auch De Toros eigene Position in der generischen Zuordnungsdebatte - der Vorschlag, von einer "tragicomedia a la española" zu sprechen - erscheint mir durchaus plausibel. Wichtig ist vielleicht noch anzumerken, daß die Diskussion der "Gattungszugehörigkeit" der Ehrendramen, wie sie hier mit sowohl systematischer als auch historischer Akkuratesse entfaltet wird, keineswegs nur Klassifikationsprobleme betrifft, sondern immer schon diffizile Interpretationsfragen impliziert. Besonders deutlich wird das bei der Erörterung der Frage, ob in den spanischen Ehrendramen eventuell das Prinzip einer 'poetischen Gerechtigkeit' auszumachen ist, oder bei der Auseinandersetzung mit Parkers Vorschlag, das Mehrwissen des Zuschauers gegenüber dem partiell 'blinden' Rächer in manchen Ehrendramen als Anagnorisis und demzufolge als eine Art tragische Ironie aufzufassen. Von allgemeiner gattungstheoretischer Bedeutung sind schließlich De Toros Betrachtungen zur idealtypischen Ambivalenz des Endzustands im spanischen Ehrendrama, welcher für die entehrte Frau in der Regel einen tragödienspezifischen Untergang, für den Ehrenrächer dagegen eine komödienspezifische Restauration vorsieht.

Nach dem Gesagten steht für mich außer Zweifel, daß Alfonso De Toro eine exzellente Habilitationsschrift vorgelegt hat, auf die nicht nur die Hamburger Fakultät, sondern die deutsche Romanistik, in deren beste Traditionen De Toro sich mit seiner Studie einschreibt, insgesamt stolz sein kann. Veröffentlicht, dürfte diese Studie ein Standartwerk werden, nicht zuletzt wegen der singulären Verbindung von semiotischem "esprit de géométrie" und literarhistorischer Erudition, durch die sie sich auszeichnet.

O. Univ. Prof. Dr. Ulrich Schulz-Buschhaus, Universität Graz, 4. April 1992

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