DIE LEHRE

VON DEN

TONEMPFINDUNGEN

ALS

PHYSIOLOGISCHE GRUNDLAGE

FÜR DIE
THEORIE DER MUSIK

VON
HERMANN VON HELMHOLTZ

FÜNFTE AUSGABE
MIT DEM BILDNISS DES VERFASSERS UND 66 IN DEN TEXT EINGEDRUCKTEN HOLZSTICHEN
BRAUNSCHWEIG
DRUCK UND VERLAG VON FRIEDRICH VIEWEG UND SOHN
1896

VORREDE
ZUR
ESTEN AUSGABE.

Indem ich die Früchte achtjähriger Arbeit der Öffentlichkeit übergebe habe ich zugleich noch eine Pflicht der Dankbarkeit zu erfüllen. Die vorliegenden Untersuchungen erforderten zu ihrer Vollendung die Beschaffung von neuen Instrumenten, welche nicht wohl für das Inventarium eines physiologischen Instituts passten, und deren Kosten die gewöhnlichen Hilfsmittel eines deutschen Gelehrten überstiegen. Mir sind die Geldmittel dazu durch außergewöhnliche Bewilligungen zugeflossen. Den auf Seite 196 bis 199 beschriebenen Apparat zur künstlichen Zusammensetzung der Vokalklänge ausführen zu lassen, machte mir die Munificenz Sr. Majestät des Königs Maximilian von Bayern möglich, welchem die deutsche Wissenschaft schon in so vielen ihrer Felder die bereitwilligste Teilnahme und Förderung verdankt. Für die Erbauung des Harmonium natürlicher reiner Stimmung, welches S. 512 beschrieben ist, diente mir der Soemmering'sche Preis, den mir die Senckenbergische naturforschende Gesellschaft zu Frankfurt a. M. bewilligte. Indem ich hier öffentlich den Ausdruck meines Dankes für solche Unterstützung meiner Untersuchungen wiederhole, hoffe ich, dass noch besser als Dankesworte der Verlauf der vorliegenden Untersuchungen zeigen möge, wie ich ernstlich bemüht gewesen bin, die mir gewährten Hilfsmittel fruchtbar zu verwerten.
Heidelberg, im Oktober 1862.
H. Helmholtz.
VORWORT
   ZUR
       FÜNFTEN AUSGABE.

Die gegenwärtige Ausgabe ist ein fast unveränderter Abdruck der vorigen.  Kleine Zusätze des Herausgebers sind durch eckige Klammern kenntlich gemacht. In dem mathematischen Anhange sind nach Möglichkeit die einmal gewählten Bezeichnungen durchgeführt. Bei den Zitaten aus Arbeiten des Verfassers wurde auf die betreffende Stelle in den „Gesammelten wissenschaftlichen Abhandlungen" hingewiesen.
Jede Ergänzung des Inhaltes der „Tonempfindungen" durch Aufnahme der Ergebnisse neuerer Forschungen unterblieb gemäss einer letzten Willensäußerung des Verewigten.
Freilich hat die Wissenschaft neuerdings in mehreren hier in Betracht kommenden Einzelfragen bedeutende Fortschritte gemacht, und speziell hat sich durch die zunehmende Vervollkommnung des Mikroskopes unsere Kenntnis von dem Bau des Ohres und den Nervenendungen im Corti'schen Organ nicht unbeträchtlich erweitert.
Die Aufnahme dieser Änderungen hätte jedoch den Umsturz großer Teile des alten Textes erfordert. Eine solche Umgestaltung seiner Arbeit hätte aber nur der Meister selbst geben dürfen. Werke, die so tief, wie das vorliegende, in die Geschichte der Wissenschaft eingeschnitten und nach den verschiedensten Seiten hin epochemachend gewirkt haben, tragen in sich das Recht, als hehre historische Denkmale in ihrer ursprünglichen Form bewahrt zu werden.
Außerdem aber vermögen all diese Fortschritte höchstens manche Einzelheiten der Darstellung zu modifizieren, doch ändern sie in keiner Weise die großen grundlegenden Theorien über die Reizung der Nerven und die Übertragung des Schalles und den ganzen herrlichen Aufbau einer physikalischen Theorie des Klanges.
Berlin, im Dezember 1895.

R. Wachsmuth.

 
 

INHALTSVERZEICHNIS.

Einleitung
Beziehung der Musikwissenschaft zur Akustik. Trennung der physikalischen und physiologischen Akustik. Plan der Untersuchung.

Erste Abteilung.
Die Zusammensetzung der Schwingungen.
Obertöne und Klangfarben.

Erster Abschnitt: Von der Schallempfindung im Allgemeinen.
Unterschied zwischen Geräusch und Klang. Letzterer entspricht regelmäßig periodischen Bewegungen der Luftmasse. Allgemeine Eigentümlichkeiten der Wellenbewegungen. Während die Wellen kontinuierlich fortschreiten, führen die Teilchen des Medium, durch welches sie fortschreiten, periodische Bewegungen aus. Die Stärke der Klänge hängt von der Amplitude der Schwingungen, die Tonhöhe von der Dauer ihrer Periode ab. Einfache Verhältnisse der Schwingungszahlen für konsonante Intervalle. Berechnung derselben für die ganze Skala. Die Klangfarbe muss von der Schwingungsform abhängen. Begriff der Schwingungsform. Graphische Darstellung derselben. Harmonische Obertöne.

Zweiter Abschnitt:  Die Zusammensetzung der Schwingungen.
Zusammensetzung der Wellen zuerst erläutert an Wasserwellen. Die Höhen verschiedener Wellenzüge addieren sich zu einander algebraisch. Entsprechende Superposition der Schallwellen in der Luft.  Zusammengesetzte Schwingungen können regelmäßig periodisch sein, wenn ihre Schwingungszahlen ganze Vielfache derselben Zahl sind. Alle periodischen Luftbewegungen können ans einfachen pendelartigen Schwingungen zusammengesetzt gedacht werden. Dieser Zusammensetzung entspricht nach Ohm die Zusammensetzung des Klanges aus Obertönen.

Dritter Abschnitt: Analyse der Klänge durch Mittönen.
Erklärung des mechanischen Vorganges beim Mittönen. Es tritt ein, wenn die erregende Klangmasse einen einfachen Ton enthält, der einem der Eigentöne des mittönenden Körpers entspricht. Verschiedenheiten der Erscheinung an Stimmgabeln und Membranen. Beschreibung der Resonatoren zur genaueren Analyse der Klänge. Mittönen der Saiten.

Vierter Abschnitt: Von der Zerlegung der Klänge durch das Ohr.
Methoden, die Obertöne zu beobachten. Beweis für das Ohm'sche Gesetz, geführt mittels der Klänge gezupfter Saiten; mittels einfacher Töne von Stimmgabeln und mittels der Resonatoren. Unterschied von Klang und Ton. Streit zwischen Ohm und Seebeck. Die Schwierigkeiten in der Wahrnehmung der Obertöne beruhen auf einer gemeinsamen Eigentümlichkeit aller menschlichen Sinneswahrnehmungen. Wir sind in der Beobachtung unserer Sinnesempfindungen nur so weit geübt, als sie uns zur Erkenntnis der Außenwelt dienen.

Fünfter Abschnitt: Von den Unterschieden der musikalischen Klangfarben.
Begrenzung des Begriffe der musikalischen Klangfarbe. Untersuchung verschiedener Klänge auf ihren Gehalt an Obertönen.
    1) Klänge ohne Obertöne
    2) Klänge mit unharmonischen Nebentönen
    3) Klänge der Saiten
    4) Klänge der Streichinstrumente
    5) Klänge der Flötenpfeifen
    6) Klänge der Zungenpfeifen
    7) Klänge der Vokale
Ergebnisse für den Charakter der Klänge im Allgemeinen.

Sechster Abschnitt: Über die Wahrnehmung der Klangfarben.
Verändert sich der Klang  nach dem Phasenunterschiede der Obertöne? Versuche darüber mit elektromagnetisch bewegten Stimmgabeln, aus deren Tönen künstlich Vokal klänge zusammengesetzt werden, ergeben die Unabhängigkeit der Klangfarbe von den Phasenunterschieden. Die Hypothese, wonach eine Reihe abgestimmter mitschwingender Teile im Ohre vorhanden sind, erklärt die eigentümlichen Fähigkeiten dieses Organs. Beschreibung der mitschwingenden Teile im Ohre. Grad der Dämpfung dieser Teile. Ansicht über den Nutzen der Schnecke.
 
 

Zweite Abteilung.
Die Störungen des Zusammenklang
Kombinationstöne und Schwebungen. Konsonanz Dissonanz.

Siebenter Abschnitt: Die Kombinationstöne.
Kombinationstöne entstehen, wo sich Schwingungen zusammensetzen, die nicht unendlich klein sind. Beschreibung ihrer Erscheinung, Gesetz für die Zahl ihrer Schwingungen. Kombinationstöne verschiedener Ordnung. Unterschied ihrer Stärke bei verschiedenen Instrumenten.

Achter Abschnitt: Von den Schwebungen einfacher Töne.
Erscheinungen der Interferenz des Schalles, wenn zwei gleich hohe Töne zusammenkommen. Je nach dem Phasenunterschiede erhält man Verstärkung oder Schwächung. Beschreibung einer Sirene für Interferenzversuche. Die Interferenz geht über in Schwebungen, wenn die Höhe beider Töne etwas verschieden ist. Gesetz für die Zahl der Schwebungen. Sichtbare Schwebungen an mittönenden Körpern. Grenze für ihre Schnelligkeit.

Neunter Abschnitt: Tiefe und tiefste Töne.
Die bisherigen Versuche darüber sind ungenügend, weil Täuschung durch Obertöne möglich, war, wie sieh an der Sirene mittels der Zahl der Schwebungen nachweisen lässt. Die Töne unter 40 Schwebungen gehen in ein Dröhnen über, dessen Tonhöhe unvollkommen oder gar nicht zu bestimmen  ist. Die einzelnen Luftstöße können auch bei viel höheren Klängen noch mittels der Schwebungen der hohen Obertöne erkannt werden.

Zehnter Abschnitt: Schwebungen der Obertöne.
Je zwei Obertöne zweier Klänge, wenn sie nahehin gleiche Tonhöhe haben, können Schwebungen geben; wenn die beiden Obertöne dagegen ganz zusammenfallen, tritt Konsonanz ein. Reihenfolge der verschiedenen Konsonanzen nach der Deutlichkeit ihrer Abgrenzung von den benachbarten Dissonanzen. Anzahl der Schwebungen bei verstimmten Konsonanzen und ihr Einfluß auf die Rauhigkeit. Störung jeder Konsonanz durch die benachbarten Konsonanzen. Reihenfolge ihres Wohlklanges.

Elfter Abschnitt: Die Schwebungen der Kombinationstöne.
Die Differenztöne erster Ordnung verschiedener Paare von Partialtönen zweier Klänge können Schwebungen von großer Deutlichkeit geben; schwächere die Kombinationstöne höherer Ordnung auch für einfache primäre Töne. Einfluss der Klangfarben auf die Schärfe der Dissonanzen und den Wohlklang der Konsonanzen.

Zwölfter Abschnitt: Von den Akkorden.
Die konsonanten dreistimmigen Akkorde. Unterschied der Dur- und Mollakkorde durch ihre Kombinationstöne. Unterschied des Wohlklanges bei den verschiedenen Umlagerungen der drei- und vierstimmigen Dur- und Mollakkorde. Rückblicke auf den bisherigen Gang der Untersuchung.
 
 

Dritte Abteilung.
Die Verwandtschaft der Klänge.
Tonleitern und Tonalität.

Dreizehnter Abschnitt: Übersicht der verschiedenen Prinzipien des musikalischen Stils in der Entwickelung der Musik.
Unterschied der naturwissenschaftlichen und ästhetischen Methode. Das System der Tonleitern, Tonarten und der Harmoniebildung hängt nicht bloß von natürlichen Ursachen, sondern auch von ästhetischen Stilprinzipien ab. Drei Hauptperioden sind zu unterscheiden:
    1) Die homophone Musik
    2) Die polyphone Musik
    3) Die harmonische Musik

Vierzehnter Abschnitt: Die Tonalität der homophonen Musik.
Ästhetischer Grund für das Gesetz des stufenweisen Fortschritts in der Skala. Verwandtschaft der Klänge beim melodischen Fortschritt beruht in der Gleichheit zweier Partialtöne. So ist zuerst gefunden worden die Oktave, Quinte und Quarte. Schwankungen in den Terzen und Sexten. Die fünfstufigen Leitern der Chinesen und Galen; die chromatischen und enharmonischen Leitern der Griechen; die siebenstufige diatonische Leiter des Pythagoras; die Tongeschlechter der Griechen und der altchristlichen Kirche. Rationelle Konstruktion der diatonischen Leiter nach dem Prinzip der Tonverwandtschaft ersten und zweiten Grades ergibt die fünf melodischen Tonleitern des Altertums. Genauere Bezeichnung der Tonhöhe eingeführt. Eigentümliche Auffindung der natürlichen Terzen im arabisch-persischen Musiksystem. Bedeutung des Leittones und dadurch bedingte Änderung der modernen Skalen.

Fünfzehnter Abschnitt: Die konsonanten Akkorde der Tonart
Akkorde als Vertreter von Klängen. Zurückführung aller Töne auf die engsten Verwandtschaften in der populären Harmoniefolge der Durtonart. Zweideutige Klangbedeutung der Mollakkorde. Der tonische Accord als Zentrum der Akkordfolge. Verwandtschaft der Akkorde. Unter den alten Tongeschlechtern sind Dur und Moll zur Harmoniebildung am geschicktesten. Moderne Reste der alten Tongeschlechter.

Sechzehnter Abschnitt: Das System der Tonarten.
Relativer und absoluter Charakter verschiedener Tonarten. Die Modulation führt zur temperierten Stimmung der Intervalle. Hauptmann's System lässt noch eine Vereinfachung zu, die es praktisch ausführbar macht. Beschreibung eines Harmonium mit natürlicher Stimmung. Nachteile der temperierten Stimmung. Regeln der Modulation bei reiner Stimmung.

Siebzehnter Abschnitt: Von den dissonanten Akkorden.
Aufzählung der dissonanten Intervalle der Skala. Die dissonanten Dreiklänge, die Septimenakkorde. Begriff der dissonanten Note. Dissonante Akkorde als Vertreter von Klängen.

Achtzehnter Abschnitt: Gesetze der Stimmführung.
Kettenweise Verbindung der Klänge einer Melodie. Daraus folgen Regeln für die Bewegung der dissonanten Note. Auflösung der Dissonanzen. Kettenweise Verbindung der Akkorde, Auflösung der Septimenakkorde. Oktaven- und Quintenparallelen. Unharmonischer Querstand.

Neunzehnter Abschnitt: Beziehungen zur Ästhetik.
Das Gesetz von der unbewussten Gesetzmäßigkeit der Kunstwerke. Das Gesetz der melodischen Folge der Töne beruht auf einem Akte der Empfindung, nicht des Bewusstseins. Ebenso der  Unterschied der Konsonanz und Dissonanz. Schluss.

Beilagen.
1) Elektromagnetische Treibmaschine für die Sirene
2) Maße und Verfertigung von Resonatoren
3) Die Bewegung gezupfter Saiten
4) Herstellung einfacher Töne durch Resonanz
5) Schwingungsform der Klaviersaiten
6) Analyse der Bewegung von Violinsaiten
7) Zar Theorie der Pfeifen
    A. Einfluss der Resonanz in den Zangenpfeifen
    B. Theorie des Anblasens der Pfeifen
    I. Das Anblasen der Zungenpfeifen
    II. Das Anblasen der Flötenpfeifen
8) Praktische Anweisungen für die Versuche über Zusammensetzung der Vokale
9) Phasen der durch Resonanz entstandenen Wellen
10) Beziehung zwischen der Stärke des Mitschwingens und der Dauer des Ausschwingens
11) Schwingungen der Membrana basilaris der Schnecke
12) Theorie der Kombinationstöne
13) Beschreibung des Mechanismus für die Öffnung einzelner Löcherreihen in der mehrstimmigen Sirene
14) Schwankung der Tonhöhe bei den Schwebungen einfacher Töne
15) Berechnung der Intensität der Schwebungen verschiedener Intervalle
16) Schwebungen der Kombinationstöne
17) Plan für rein gestimmte Instrumente mit einem Manual
18) Anwendung der reinen Intervalle beim Gesang
19) Plan von Herrn Bosanquet's Manual