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Mein Sohn in Stasihaft

Ein Bericht von Helga Brachmann, Leipzig

Das ist keine Liebesgeschichte! "Magdalene" war die spöttische Bezeichnung für das Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit der DDR, gelegen in der Magdalenenstraße in Berlin-Lichtenberg.

Wie ich bruchstückhaft über die Haft meines Sohnes Christian Kunert, genannt KUNO, informiert wurde, und wie ich seine Zeit in der "Magdalene" durchlitt, will ich schildern. Christian war als Gitarrist, Sänger und Keybordspieler das jüngste Mitglied der Klaus-Renft-Kombo, die Anfang der 70er Jahre in dem kleinen Land DDR einen großen Bekanntheitsgrad hatte. Den jungen Musikern ging es gut, sie wurden gefördert und gefeiert, sie verdienten überdurchschnittlich. Wenn ich damals beruflich in ein Schulmusikzimmer kam, hing entweder dort eine Plakat der Kombo, oder aber mein Sohn lachte mich von einem Gruppenfoto her an.

An einem Sommerabend 1975 traf ich meine Schwiegertochter Karin in der Hochschule für Musik auf dem Korridor. Ich hatte gerade meinen Sohn auf dem Klavier bei seinem Staatsexamen begleitet. Warum sah Karin so elend aus? Kaum allein mit ihr, erfuhr ich es:


"Kuno wird immer übermütiger und unvorsichtiger. Dauernd höre ich, er brauche seine Freiheit! Freiheit privat -- denk nur, er will die Scheidung einreichen - auch Freiheit sonst! Neulich hat er vor Publikum auf dem Podium gesagt: "Ein Staat, der mich nicht hinreisen läßt dorthin, wo ich will, das ist nicht mein Vaterland oder meine Heimat! - Mama, ich habe so Angst!" Oh, das konnte ich verstehen, wer 1975 in der DDR gelebt hat, wird es nachfühlen. Ich war besonders aufgewühlt und besorgt, hatte ich doch erst vor zwei Jahren Befragungen, Verhöre und eine Hausdurchsuchung hinter mir, weil meine jüngste Tochter illegal durch den "Eisernen Vorhang" geschlüpft war!

Wenige Wochen später rief Karin an, die Scheidung sei ausgesprochen, man lebe aber weiter zusammen, auch wegen der kleinen Denise. Obwohl nur 20 Autominuten entfernt, sah man sich wenig. Der nächste Anruf meiner Schwiegertochter erschreckte mich wieder: "Die Kombo ist verboten. Christian - (d.h. sie nannte ihn immer 'Kuno') ist nun ohne Einnahmen. Ich habe eine Anstellung gefunden, auch einen Kindergartenplatz für Denise."

Was würde nun werden? Würde der SED-Staat Ruhe geben - konnte Christian in ein Sinfonieorchester als Posaunist gehen? Würde mein Sohn jetzt den Mund halten können, um sich und die Familie nicht zu gefährden?

Zu ihrem Geburtstag besuchte ich Karin und erfuhr, daß Christian mit dem Liedermacher Pannach zusammen Gemüsekisten zur Messezeit geschleppt hatte und daß beide an einem Programm zu Zweit bastelten, man hoffte, daß die neuen Texte der "Kommission" gefallen würden und daß man dann zu Zweit auf Tournee gehen könne.

Telefon hatten Karin und Christian nicht. Ein Brief meines Sohnes alarmierte mich - ich traute kaum meinen Augen, was ich da las:
"Mutter, ich war zur Musterung bestellt! Hab einfach eine Postkarte geschickt, ich wär verreist. Da haben mich doch eines Abends vier 'Bullen' abgeholt, ein paar Stunden dabehalten und gedroht, mein Verhalten könne für mich sehr unangenehm enden. Und zu Viert haben mich die Bullen auch wieder heimgebracht, die können mich mal ..."

Ich war bestürzt und erschrocken! Wollte sich Christian noch mehr mit der Obrigkeit anlegen? Genügte das Auftrittsverbot nicht? Sein Geld war ohnehin aufgebraucht, was ich von Karin erfahren hatte. Mein Sohn wußte doch, da gab es kein Erbarmen, ein Musterbescheid war doch kein Faschingsscherz!

Ich fuhr baldmöglichst zu der jungen Familie. Chris schimpfte auf den "Blödmann Egon Krenz" und ich höre mich heute noch sagen: "Wenn Du so weitermachst, landest Du im Kittchen!" "Na, dann lande ich eben dort, ist mir doch egal!"

War das Mut? War das Trotz? Ich versuchte es mit sanfter Art, doch an Karin und die Kleine, vielleicht auch an seine Schwester zu denken - ich redete gegen eine Wand. "Ich will meine Freiheit" - ich merkte, meine Argumente bremsten den "Jungen" nicht. War ich zu ängstlich, war ich feige, wie mein Sohn meinte?

Er holte ein Büchlein, Texte von Wolf Biermann, der mir damals nur dem Namen nach bekannt war. "die Sachen sind gut gemacht" mußte ich anerkennen, "mit Scharfsinn und Witz - aber so etwas kann man doch unmöglich bringen!" Ich erfuhr, daß Biermanns Vater als Jude den Nationalsozialismus nicht überlebt hatte. "Und für diese Scheiß-DDR ist Biermanns Vater nicht gestorben!" Christian schwärmte fast von dem wesentlich älteren Liedermacher, er schien so eine Art Vaterfigur für ihn zu sein. Den eigenen Vater hatte mein Sohn verloren, als er vier Jahre alt war.

Was hatte Christian vor? Er schien so unbedacht, schien Angst und Furcht nicht zu kennen!Konnte ich denn nie in Ruhe meinem Beruf nachgehen?

War es denn zu viel verlangt, daß ich meine erwachsenen Kinder ebenfalls zufrieden in ihren Berufen und in ihren Familien wissen wollte? Unvorstellbar - im Herbst 1976 - daß die "Mauer" einmal fallen würde, daß die Sowjets ohne Kampf Mitteldeutschland räumen würden! Aussichtslos schien mir die Rebellion meines Sohnes!

Anfang November 1976 weckte mich mein Lebensgefährte mitten in der Nacht, der Fernseher lief nebenan. Sehr aufgeregt - ganz gegen seine Art - hörte ich ihn berichten: "Biermann gibt gerade im Westfernsehen ein Konzert. Zum Teil: toll! aber eben hat er geäußert: "Falls 'Die in der DDR' mich nicht wieder einreisen lassen, werden meine Freunde Christian Kunert und Gerulf Pannach mir helfen!"

Das hatte Biermann im "Westen" auf der Bühne gesagt? Ja, war denn der Mann verrückt geworden? Wie konnte er seine jungen Bewunderer dort nennen? So etwas Egoistisches, Rücksichtsloses, der Mann kannte doch die DDR-Verhältnisse! WAS würde jetzt mit Chris und seinem Freund passieren? Wut, Angst, Ungewissheit machten die Konzentration beim Unterrichten schwer, andrerseits lenkte die Arbeit auch etwas ab.

Ich wagte nicht, zu meinem Sohn zu fahren nach der unerfreulichen Debatte vor kurzer Zeit. Endlich - wohl nach etwa 14 Tagen - rief Karin an. "Ich bin in der Telefonzelle." "Was ist passiert?" die Stimme der jungen Frau verriet Kummer und Aufregung. "Kann ich Dir nicht sagen!"
"Ich komme heute abends zu Euch!" "Nein, tu das nicht. Ich komme zu Dir!" "Aber, ich hab doch das Auto, das geht schneller!" "Nein, ich bin Sonntag gegen 10 Uhr bei Dir!" - Warum das alles?

Noch 3 Tage warten! Was war bloß passiert? Doch nicht etwa eine Flucht meines Sohnes oder gar Inhaftierung? Er war so leichtsinnig gewesen! Endlich war Sonntag. Wortlos und weinend gab mir die Schwiegertochter eine Postkarte! "Lies selbst!"
"Ihr Ehemann Christian Kunert wird zwecks Klärung eines Tatbestandes vorläufig bei uns festgehalten ... Unterschrift, Datum. Adresse."

Also doch Haft! Es verschlug mir die Sprache. Trotz böser Ahnungen hoffte ich doch inständig bzw. hatte inständig gehofft, daß dies nicht kommen würde! "Wieso Ehemann, Ihr seid doch geschieden?" brachte ich endlich hervor. "Kuno hat das nicht in seinem Ausweis eintragen lassen. DIE denken, wir sind noch verheiratet!" "Aber d a s bekommt doch die Stasi baldigst heraus!" "Ja, aber hör zu. Ich habe schon Verbindung zum Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Du weißt, wer das ist?" "Habe davon gehört." "Also, Vogel sagt. es darf nur eine Kontaktperson zu Kuno geben, die schreiben und besuchen darf. Gilt er als geschieden, bist Du, Mama, diese Person. Sind wir noch ein Ehepaar, dann bin ich das! Darum habe ich schon an Chris geschrieben, habe schon einen Antrag für die Besuchserlaubnis gestellt. Bitte, bitte, Mama, lass mich das machen! Sag mir, daß Du mich lässt, vielleicht kommen wir dadurch wieder zusammen und heiraten wieder, und alles wird gut."

Die kleine Denise schaute verstört hin und her - auf die weinende Mama, auf die weinende Oma. Was konnte ich Anderes tun, als zuzustimmen? Merkwürdigerweise hat man von Seiten der Staatssicherheit aus Karin und Christian auch bis zuletzt als Ehepaar dann behandelt.
"Ja, aber warum hat man Chris eingesperrt?" Nun erfuhr ich es. Auch Karin war, von meinem Sohn in der Nacht des Biermannkonzertes geweckt worden! "Ich fahre nach Berlin sofort, mit Pannach, wir müssen Biermann helfen!" "Ja, aber wie denn?" "Kuno und Pannach wollten Unterschriften sammeln gegen die Ausweisung des Freundes. Dann wollten sie die Listen irgendwem vom ZDF bringen. Pannachs Frau hat es mir erzählt. Irgend etwas ist dabei schief gegangen!" Mein Junge im Gefängnis! Würde man Ihn anständig behandeln? Fror er, hungerte er? Wie würde er die Haft durchstehen? Was würde auf meine beiden großen Töchter, was würde auch auf mich zukommen? Und wie couragiert hatte meine kleine, schüchterne Schwiegertochter schon gehandelt!

Wie konnte ich Karin helfen? Nun ja, vielleicht materiell? Sie nahm das Geld an. "Wanzen haben die mir bei der Wohnungsdurchsuchung so blöd angebracht, daß ich es gemerkt habe. "Darum", fuhr Karin sachlicher fort, "komm Du nicht zu mir, schreib mir nicht, ich melde mich wieder von einer Telefonzelle aus." Ich fuhr Karin zu einer Freundin.

Mein Sohn - nun war er wieder "mein Kleiner" - nicht mehr der langhaarige, selbstbewußte junge Rocker. "Mein armer Kleiner" - aber solche Gefühlsausbrüche nützten jetzt nichts. Ich suchte meinen Abteilungsleiter auf. Daß er Mitglied der SED war, wußte ich damals noch nicht, ich hielt ihn, und halte ihn heute noch für einen anständigen Kerl. "Sprechen Sie mit Frau B. Sie wissen doch, das ist unsere Parteigruppenorganisatorin!" (Ich glaube, so hieß die Bezeichnung). "Frau B. sagt Ihnen, was Sie tun oder nicht tun sollen." Also, Frau B. angerufen, eine sachliche Person. "Sie tun gar nichts, Frau Brachmann. Wohnt Ihr Sohn noch bei Ihnen? Nein, seit 4 Jahren nicht mehr. Gut! sie geben Ihren Unterricht, als sei nichts passiert. Immer freundlich, so, wie man sie kennt. Zu keinem Kollegen, zu keinem Studenten ein Wort! Warten Sie ab, lassen Sie sich nichts anmerken!

Also, Abwarten! Nichts tun dürfen! Angst und Alpträume haben! Warten ... Wie hilflos fühlte ich mich! Niemand befragte mich, ich wurde tatsächlich in Ruhe gelassen. Fast unheimlich war dieses Schweigen!

Einmal im Monat fuhr Karin zum Besuch ins Gefängnis. Jedesmal hörte ich dann telefonisch: "Es geht Kuno gut, er läßt Euch alle grüßen." Das war alles. Dann - vielleicht 4 Monate später: "Der Vogel tut überhaupt nichts, hat zu Kuno gesagt, er solle mit Intelligenz die Haft ertragen! So ein Quatsch!" Einen Monat später dann eine verzweifelte Karin: "Chris hatte lauter blaue Flecke an den Armen und im Gesicht. Ich dachte, man hätte ihn geschlagen. Ich durfte ihn nicht fragen. Man hat mir kurz vorher gesagt, das sei der normale Haftkoller, die Gefangenen rennen mit Gewalt gegen die Zellenwände aus Verzweiflung!" Stimmte das? Inzwischen hatte man Karin ihre Sekretärinnenstelle an der "Hochschule für Körperkultur" gekündigt. Sie besuchte uns. "Entweder Sie distanzieren sich deutlich von Ihrem Mann oder Exmann - oder wir müssen Ihnen kündigen." Karin hatte sich nicht distanziert. In ihr war die Hoffnung - woher nahm sie die? - ich wußte es nicht - aufgekommen, Christian können nach dem Westen abgeschoben werden, und sie könne mit Denise mit. Damals 1977, etwa im Mai, war diese Abschiebepraxis noch nicht publik.

Von Karin erfuhr ich auch erstmals von dem Regimekritiker Prof. Havemann und seinem Kreis, in dem nun auch meine Schwiegertochter verkehrte. Nach 7 Monaten Haftzeit ein ganz kleiner Lichtblick. "Mama, du darfst Chris jetzt schreiben und Du kannst auch einen Besuchstermin da und da beantragen!"

Nun stand ich am 16. August vor einer Baracke in Berlin - barsch hieß es: "Warten! Es ist erst in 25 Minuten 15:00 Uhr" Ich komme direkt aus Leipzig, da kann man doch die Minute nicht so vorher bestimmen!" "Warten Sie!" Punkt 15:00 Uhr brachte man mich in ein kleines Zimmer. Der Zivilist hinter dem Schreibtisch erhob sich, stellte sich vor. Ich verstand weder den Namen noch die Berufsbezeichnung. Er war höflich. "Bitte setzen Sie sich dort auf den Stuhl, Ihr Sohn sitzt dann gegenüber an dem kleinen Tisch. vorher muß ich Sie belehren: Sie dürfen kein Wort zu dem Fall sagen, nicht über das Vergangene, nicht über die Zukunft reden. Nur Privates ist erlaubt. Und, was haben Sie da in der Tasche?" "Obst aus dem Garten, ein gebratenes Hühnchen, Fotos von meinen Töchtern und meinen Enkeln!" "Kann ich die Bilder mal sehen? Das ist aber keine Schwester, das ist doch Karin!"

Tatsächlich, ich hatte aus Versehen das Bild dabei. "Das darf Ihr Sohn nicht sehen, verstehen Sie, das regt die Leute zu sehr auf. Das Andere können Sie zeigen bzw. ihm geben."
Dann hörte ich ein Klicken. Waren das die Handschellen? Plötzlich wurde von außen die Tür geöffnet - und da stand er. Mein "Kleiner", mein Jungen. Bleich, mager. Händedruck, dann saßen wir uns gegenüber. Der Fremde, keine 1,50 Meter entfernt. Was für ein belangloses Gespräch! Nach vielleicht 20 Minuten, mitten im Satz. "Bitte beenden Sie jetzt die Unterhaltung!" Der Fremde ging zur Tür, winkte anscheinend dort irgendwem, für Sekunden waren wir allein." Soll ich wiederkommen?" "so oft es geht!" Und nun weinte der große Jungen auch noch. Dann war er fort, wieder das unüberhörbare Klicken. Gesehen habe ich die Handschellen nicht.

"Haben Sie noch Fragen?" Die Stimme des Fremden ließ mich aufschrecken. Natürlich hatte ich Fragen! "Warum muß mein Sohn hier sein? Warum wird er festgehalten, was wirft man ihm vor?
"Kann und darf ich Ihnen nicht sagen!" "Wo kann ich es denn erfahren?" "Sie können sich beim Genossen - Name verstand ich nicht - anmelden, aber der sagt es Ihnen auch nicht!" "Wie lange muß denn mein Sohn noch hier sein? Er ist gerade 25 geworden!" "Das kann noch Jahre dauern. Die Untersuchungen sind längst noch nicht abgeschlossen!" "Kann ich meinen Sohn wieder besuchen?" "Sie dürfen in 4 bis 6 Wochen einen Antrag stellen!" "Darf ich ihm wieder schreiben, dürfen seine Schwestern ihm schreiben?"
"Ja, schon, aber nicht oft, sagen wir einmal im Monat." "Was darf ich ihm mitbringen?" "Obst ist das Wichtigste".

Damit war ich entlassen - und merkte draußen, daß ich sowohl das Hähnchen als auch die Pflaumen aus dem Garten vergessen hatte, Chris zu geben. Noch Jahre hinter Gittern! Wegen dieser Unterschriften? Wegen Christians Schimpfen auf die DDR-Regierung? Wie schwach war denn ein Staat, der jungen Menschen jahrelang einsperren wollte, weil sie ihre Meinung geäußert hatten? Ein paar Tage später im ZDF ein Bericht über die verbotene Klaus-Renft-Kombo. 'Gerulf Pannach und Christian Kunert sitzen im Zuchthaus', so hieß es darin. Nun 'Zuchthaus' war übertrieben, aber Untersuchungsgefängnis bei der Staatssicherheit - das war doch schlimm genug!

Es muß am 26. August gewesen sein, zehn Tage, nachdem ich Christian gesehen hatte. Karin rief aufgeregt aus Berlin an: "Was hast Du nur getan, Mama! Du mußt was Dummes gesagt haben! Man läßt mich nicht zu Kuno! Immer hat das geklappt!

"Das kann doch bloß wegen Dir sein!" Ich verteidigte mich, keine Ahnung hatte ich, was ich falsch gemacht haben könnte! Natürlich konnte ich meine Schwiegertochter von meiner "Unschuld" nicht überzeugen. Zwei Stunden später dann eine reumütige Karin am Telefon: "Du bist nicht schuld. Stell Dir vor, ich durfte dann rein. 3 Minuten - so sagte Die, könnte ich mit Kuno unter vier Augen sprechen - und nun staune - ob wir gemeinsam in den Westen ausgewiesen werden wollen!"

"Na und, wollt Ihr?" "Mama, wir müssen. Sonst behalten die Kuno da. Heute noch soll Chris mit Pannach und Fuchs über die Grenze gebracht werden! ich soll schnell nach Leipzig zum Packen. Kannst Du Denise ein paar Tage nehmen?" Ich konnte, noch waren Semesterferien. "Hör heute unbedingt ZDF oder Tagesschau" rief Karin noch in die Muschel. Und tatsächlich, ich hörte es abends, sah Christian und die anderen Zwei im Fernsehen "Die Liedermacher Gerulf Pannach und Christian Kunert, zusammen mit dem Schriftsteller Jürgen Fuchs aus Jena sind heute als freie Männer in Westberlin eingetroffen!"

Freute ich mich? Natürlich, sehr sogar - trotzdem bedrückte es mich, nun das zweite Kind jenseits des Eiseren Vorhangs zu wissen. Wann würde man sich wiedersehen? Würde Christian beruflich "drüben" Fuß fassen können? Würde man Karin und Denise unbehelligt ziehen lassen?

Karin brachte mir Denise und meinte, in sechs Wochen habe sie den Haushalt aufgelöst und alles verpackt, sie würde Denise natürlich nicht zum Schulanfang in 4 Tagen bringen, alle Sachen könnten Ausgewiesene im Umzugswagen nachkommen lassen. Doch schon nach zwei Tagen erschienen zwei Frauen in Karins Wohnung, wann sie denn nun endlich ausreisen? Zwei Tage noch - dann müßte das passiert sein. Karins Vater übernahm die Umzugsarbeit. Wie erleichtert ich war, als Karin dann in der Nacht anrief "Mama, ich habe es geschafft! Wir sind wieder zusammen, ich bin richtig glücklich" höre ich sie heute noch sagen.

Ja, glücklich war die junge Familie zunächst. Die drei jungen Männer, frisch aus der Haft bei der Stasi entlassen, waren eine Attraktion in der Bundesrepublik. Geschenke gab es, finanzielle Hilfen für den Anfang, Interviews und Fernsehauftritte. Doch bald wurden Karins spärliche Berichte wieder düster, mein Sohn zog aus der neuen Wohnung aus, er landete in einer feuchten Hinterhofwohnung, in der er ständig fror; mit Schnee schippen und gelegentlichem Unterrichten versuchte er, sich über Wasser zu halten. Es dauerte Jahre bis er zeitweise verdiente, mal schrieb er Musik für die "Stachelschweine", mal arbeitete er vorübergehend für das Gripstheater, immer war das Geld knapp.

Meine in der DDR verbliebenen Töchter waren wütend: "Entweder hat mein Bruder etwas verbrochen, dann muß es eine Gerichtsverhandlung geben, oder er hat nichts Strafbares getan, dann darf man ihn nicht einsperren und dann für Bananen und Apfelsinen verkaufen! 50.000 Mark hat unser Bruder 'gekostet'!

Eine Tochter wandte sich schriftlich an eine hohe Stelle mit ihrer Beschwerde und wurde dann in die SED-Bezirksleitung Leipzig bestellt. Sie solle den Fall politisch sehen, hieß es. Damals war die Praxis des Freikaufs von DDR-Häftlingen erst am Beginn.

Was stand uns, der "DDR-Restfamilie" nun noch bevor? Nun, mich ließ man beruflich in Frieden, allerdings früher geäußerte Versprechungen in Bezug auf eine Dozentur wurden nie mehr erwähnt. "Da müssen Sie etwas falsch verstanden haben"" - hieß es. nachdem man vorher bereits darauf hingewiesen hatte, daß ich mehrmals, um Dozentin zu werden, nach Rohrbach in Thüringen zu Schulungen müsse. Sogar Termine hatte ich schon bekommen, aber das war nun alles meiner angeblichen Phantasie entsprungen.

Meinen Töchtern wurde klargemacht, daß es aufgrund der "Verhältnisse in der Familie" unmöglich sei, Oberärztin am Klinikum der Leipziger Universität zu werden. Und an die "Akademie der Wissenschaften der DDR" zu kommen, war sowieso unmöglich, wenn man Verwandte 1. Grades in der Bundesrepublik hatte. Elf Jahre später wollten zwei meiner Enkel ihre Armeezeit bei der Marine verbringen. Abgelehnt! Die Familienverhältnisse! Ein anderer Enkel wollte sich 1987 für das Jurastudium bewerben. Abgelehnt! Diese Familienverhältnisse! Die Heran-wachsenden waren wütend, schließlich waren sie fünf und 6 Jahre alt, als ihr Onkel Christian in der "Magdalene" einsaß!

Ich selbst wollte zum 80., 81. und 82. Geburtstag meiner Mutter nach Stuttgart fahren. Abgelehnt! Bei der Polizeidienststelle in der damaligen Dimitroffstraße fragte ich, warum. "Das darf ich Ihnen nicht sagen." "Wo kann ich das erfahren?" "Da können Sie versuchen, einen Termin beim Leiter des Hauses zu bekommen - aber der sagt Ihnen das auch nicht!" So eine Debatte hatte ich schon einmal erlebt. Ich war zu stolz, und auch zu wütend, um mich um einen so sinnlosen Gesprächstermin zu "bewerben".

Vom Leben in der "Magdalene" hörte ich nach der WENDE. "Eines Tages" erzählte mir mein Sohn "wurde ich ganz außer der Reihe abgeholt. Die "Magdalene" war nicht der Schuppen, in dem man Besuch bekam. zum Besuch ging es mit der "grünen Minna" durch Berlin. "Also, ich denk, ich werd nicht. Sitzen da ein paar Kerle, die ich nicht kenne. Torte auf dem Tisch, Bohnenkaffee, gute Zigaretten." "Herr Kunert, bedienen sie sich. Also, irgend was mußte da faul sein! Und dann kam's: Herr Kunert, Sie sollten mal', stell Dir vor, plötzlich war ich 'Herr Kunert', also, Sie sollten mal Ihr Verhältnis zu uns ändern. Wir könnten doch zusammenarbeiten, wir entlassen Sie nicht nach Leipzig, da kennt man Sie zu sehr, nein, beispielsweise nach Potsdam. Sie suchen sich eine neue Band zusammen und erzählen uns dann, was die Leute so über unseren Staat sagen!" "Als Spitzel wollen Sie mich? Niemals!" Mutter, ich war entsetzt, ich dachte das darf's gar nicht geben! Und was denkst Du, wie schnell die guten Zigaretten vom Tisch waren! Und meine Torte konnte ich auch nicht mehr aufessen"!

Ich fragte Christian, was das für ein Mann gewesen sei, der seinerzeit bei meinem Besuch dabei gesessen hatte. "Das war der Kerl, den sie meinen 'Betreuer' nannten!" "Betreuer, inwiefern hat der Dich "betreut"?" "Jeden Tag 8 Stunden, außer sonn- und feiertags, täglich 8 Stunden "Befragung. 'Das ging so: 'Also, am 18. Mai 1976 waren Sie von 15Uhr55 bis 17Uhr30 bei Ihrer Mutter. Was wurde da gesprochen?' Siehst Du, das war zum Beispiel das Thema eines Tages! Da konnte ich x-mal sagen, daß Geburtstag war, daß Karin und Denise mit waren, daß wir im Garten gesessen haben - 'also, erinnern Sie sich doch! Über irgend etwas müssen Sie doch geredet haben. Was denkt Ihre Mutter über unseren Staat,' na, so ging das eben stundenlang."

1977 wurde mein Sohn aus der "Magdalene" entlassen. Jetzt schreiben wir das Jahr 2001. Seine beiden Mitstreiter von damals sind inzwischen gestorben, beide an Krebs. "Spiegel" und "Bildzeitung" behaupteten vor etwa eineinhalb Jahren, die Häftlinge seien mit gesundheitsgefährlichen, krebserzeugenden Strahlen geschädigt worden. Absichtlich.

Ich wollte Christian nicht darauf ansprechen. doch er rief an: "Mutter, hast Du heute schon in den "Spiegel" geschaut? Mach Dir keine Sorgen, von dem Zeug wird in unseren Kreisen schon lange gefaselt, ich bin kerngesund!" "Ja, ist denn etwas Wahres an diesen Meldungen?" Christian antwortete ausweichend, wollte er mich beruhigen? ich weiß es nicht. Ich konnte einmal Herrn Gauck danach fragen, auch er wich meiner direkten Frage aus, es könne sein, es könne auch nicht sein.

Mein Sohn ist jetzt 48 Jahre alt. Es bleibt mir nur die Hoffnung, daß er weiterhin gesund sein möge!

Nachbemerkung

Über den Aufstieg und das Verbot der Klaus-Renft-Kombo kann man nachlesen in:

"Zwischen Liebe und Zorn" von Klaus Renft,

und in

"Als ich wie ein Vogel war"



Das sind Texte von Gerulf Pannach mit biographischen Hinweisen, herausgegeben von meinem Sohn, Christian Kunert, genannt 'Kuno'. Jürgen Fuchs schrieb das Buch "Magdalenenstraße" und Erich Loest erwähnt die Geschichte der Renft-Kombo in seinem Buch:

"Die Stasi war mein Eckermann"


Seit der Wende tritt die Kombo in unterschiedlichen Besetzungen in den neuen Bundesländern wieder auf.

Leipzig, Januar 2001



Helga Brachmann ist Pianistin. Sie arbeitete von 1961 bis 1975 als Korrepetitorin an den Städtischen Bühnen Leipzig und war von 1975 bis 1988 Lehrerin im Hochschuldienst an der Musikhochschule Leipzig. Heute ist sie im Ruhestand.

 

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