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Das "Konterrevolutionäre Subjekt": Zwischenfall in einer Leipziger Berufsschule 1964

Ein Bericht von Elke Rau, Leipzig

Ich war mit 26 Jahren die jüngste Berufsschullehrerin an der GBS Leipzig und hatte zu meinen Schülern dadurch ein recht kameradschaftliches Verhältnis. Selbst erst vor einigen Monaten das Fachschulstudium für Augenoptik in Jena absolviert, wurde ich vom Obermeister der Innung Ende August 1964 gebeten, für einen wegziehenden Kollegen in die Bresche zu springen und ab 1. September den Fachunterricht für das 2. Lehrjahr zu übernehmen.

Ausgestattet mit keinerlei pädagogischen Vorkenntnissen und Unterlagen, aber dem Wissen, daß ich immer eine gute Theoretikerin war, und dem Vorsatz, immer ehrlich zu sein, wenn ich einmal nicht sofort auf eine Frage eine Antwort hätte, trat ich mit ziemlichen Herzklopfen vor die 17-19jährigen hin. Meine Bedenken, daß ich mir keinen Respekt verschaffen könnte, wurden schon am ersten Tag entkräftet.

Mit dem Einführungssatz "Ich säße jetzt auch lieber unter Ihnen und würde mir von mir etwas erzählen lassen, denn ich war selber noch vor einiger Zeit Student" hatte ich die Klasse gewonnen, wie sie mir später auf einer Exkursion erzählten.

Vier Wochen vor Abschluß des zweiten Lehrjahres gab ich im Fachunterricht als letzte Stunde Fachzeichnen. Alle saßen konzentriert über ihre Zeichnung gebeugt, nur in der letzten Reihe bemerkte ich eine Unruhe. Ein Blatt wurde hin und her gereicht und erregte auffälliges Interesse, wie ich es für eine technische Zeichnung nicht vermutete. Also näherte ich mich der Bank und sah, daß etwas unterm Tische verschwand. Meiner Aufforderung zur Herausgabe entsprach der Schüler sofort, und ich erblickte einen wirklich schön skizzierten Frauenakt. Mit der Bemerkung, er solle sich seine künstlerische Begabung für die Freizeit aufheben, war für mich die Sache erledigt und die Ruhe wieder hergestellt. -

Am nächsten Vormittag wurde ich im Handwerksbetrieb, wo ich als Meister tätig war, ans Telefon gerufen. Der Direktor der Berufsschule zitierte mich mit aufgeregter Stimme zu einer Konferenz am Nachmittag in die Schule, es handele sich um einen Schüler meiner Augenoptikerklasse. Ich bat ihn, meine Freistellung mit meinem Chef zu klären, denn ich unterrichtete ja nur 5 Stunden in der Woche nebenberuflich.

Tausend Gedanken jagten mir während der Fahrt nach Lindenau durch den Kopf:

"Wer konnte was verbrochen haben, daß es so dringend machte, eine Sondersitzung einzuberufen?"

Als ich das Lehrerzimmer betrat, waren dort das gesamte Kollegium und der Schüler, der am Vortag den Akt gezeichnet hatte, versammelt. Ich wurde davon in Kenntnis gesetzt, daß der Schüler Klaus Schuster ab sofort vom Unterricht suspendiert sei und das Kollegium den Abbruch seiner Lehre beschließen wolle. Begründung: "er habe als 'Konterrevolutionäres Subjekt' seine Chance auf einen Ausbildungsplatz vertan.

Ich erfuhr, daß das Bild am Vortage von der nachfolgenden Klasse unter Gejohle im Klassenzimmer gefunden und vom Lehrer konfisziert worden war. Am Morgen hatte sich Klaus Schuster auf die Frage des eintretenden Direktors, wer diesen Akt gemalt hätte, sofort zu seinem Werk bekannt.

Auf meine entsetzte Frage, was denn eine Akt-Zeichnung mit Konterrevolution zu tun habe, bekam ich zur Antwort. "Nicht der Akt, sondern das Blatt, auf das er gemalt wurde, ist Stein des Anstoßes und Diffamierung eines Staatsmannes!"

Nun verstand ich gar nichts mehr und wurde aufgeklärt:

Der Schüler Klaus Schuster hätte das an der Wand hängende Wilhelm-Pieck Bild herunter - und aus dem Rahmen genommen und auf die Rückseite des Druckes den Frauenakt gezeichnet. Seine Beteuerungen, daß er auf der letzten Bank ein Blatt weißes Papier vorgefunden habe, ohne zu wissen, was auf der Rückseite sei, wurden belächelt und nicht geglaubt.

Ich aber, die die Jungen am besten kannte, konnte überhaupt nicht verstehen, wie man aus so einem Dummen-Jungen-Streich eine politische Hysterie machen konnte und äußerte das. Die Antwort lautete: "Sie mögen eine gute Fachkraft sein, aber politisch sind Sie völlig naiv! Wir werden uns wieder sprechen, in einigen Jahren wird aus diesem jungen Mann ein Staatsfeind geworden sein."

Plötzlich wußte man, daß er bei einer Solidaritätsspende vor einem halben Jahr weniger gespendet hatte als andere, er aus kleinbürgerlichen Elternhaus stamme (der Vater hatte einen privaten Augenoptikerbetrieb) und er schon als Abiturient nicht zu den aktivsten FDJ-lern zählte.

Ich war verzweifelt und nahm nun all meinen Mut zusammen und sagte das, was viele Kollegen nur denken durften, denn ich war die einzige, die nicht in Staatsdiensten war:

"Herr Direktor, ich weiß. daß Sie zwei Söhne im ähnlichen Alter haben, wissen Sie, was die jetzt tun, können Sie trotz sozialistischer Erziehung in jedem Moment ihre Hand für die beiden ins Feuer legen? Ich bürge dafür, daß Klaus Schuster sich während der Ausbildung nichts mehr zu Schulden kommen läßt und seine Lehre mit Erfolg beendet."

Nach diesen Worten gab das Kollegium bei einer Abstimmung dem Jungen noch eine Chance und plädierte für einen strengen Verweis, der einer roten Karte gleich kam.

In einer Unterredung mit ihm unter vier Augen, machte ich ihm den Ernst seiner Lage noch einmal eindringlich klar und hoffte, daß er das in ihn gesetzte Vertrauen nicht enttäuschen würde!

Fünf Jahre später war das "Konterrevolutionäre Subjekt" Meister der Augenoptik und stärkte mit seiner Arbeit am Kunden indirekt den Sozialismus - von Staatsfeind keine Spur! Aber was wäre geworden, wenn nicht ein Mensch ihm geglaubt und vertraut und Zivilcourage bewiesen hätte!

Zur Person:
Elke Rau,   geb.17.04.1938 in Leipzig
1952 - 1956  Besuch der Thomas - Oberschule / Abitur altsprachlich
1956 - 1959  Lehre im Augenoptikerhandwerk
1961 - 1963  Fachschulstudium in Jena / Abschluß: Staatl. geprüfter Augenoptiker
1963 - 1995 Tätigkeit als Augenoptiker-Meister in Leipzig
1996              Aufgabe der Berufstätigkeit wegen Invalidität
seit 1997      Gasthörerschaft an der Universität Leipzig

 




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