Carlos
Rincón
Danksagung
Magnifizenz
Professor Franz Häuser: Sehr geehrte Frau Dekanin, Professor Gerhild Zybatow;
Exzellenz Victoriana Mejía Marulanda, Botschafterin von Kolumbien, sehr geehrte
Mitglieder des Diplomatischen Corps; liebe Kolleginnen und Kollegen; liebe
Vittoria Borsò, lieber Alfonso de Toro, liebe Gäste.
Es
bedeutet für mich eine immense Freude, heute die Ehrendoktorwürde der Alma
Mater lipsiensis zu erhalten. Insbesondere auch bei dem Gedanken daran, welche
Genugtuung meinen Mentor Werner Krauss erfüllt hätte, würde er den jungen
kolumbianischen Stipendiaten, dem er seinerzeit das Denken beigebracht hatte,
hier im Senatssaal der Leipziger Universität sehen. Auch halte ich mir die alegría,
so kann ich nur auf spanisch sagen, des Dichters und Priesters Ernesto Cardenal
vor Augen, den ich ein Stück seines Weges begleiten konnte, als die Nachfahren
von Don Quijote das Wagnis unternahmen, dessen Rede über das Goldene Zeitalter
und den Topos von Feder und Schwert in die notwendigen sozialen Veränderungen
ihres Landes umzusetzen.
Im September 1961
bestieg der Stipendiat in Bogotá ein Flugzeug mit Proppellerantrieb Richtung
Miami und flog von dort mit der nächsten Maschine nach New York. Im Handgepäckt
steckten die schon gelesenen Romane von García Márquez, Fuentes und Rulfo.
Zwei Tage später landete er in einem dritten Flugzeug in Schottland, aber nur,
um in ein viertes zu steigen, das ihn nach Paris brachte. In die Stadt, in der
er es kaum erwarten konnte, ins Musée de l’homme zu spazieren. In seinem
dreitätigen Aufenthalt besuchte eine Aufführung von Jean Vilar im Théâtre
National Populaire und sah El perro andaluz, denn Film war für den
Stipendiaten eine Kunst. In der Buchhandlung von Maspero wurden ihm die
heftigsten Vorhaltungen gemacht: wie er nur auf den Gedanken kommen konnte,
ausgerechnet in Leipzig eine Doktorarbeit – und dann noch über das Theater
von Federico García Lorca - schreiben zu wollen? Zumal in einem Moment, in dem
der Zeitgeist drängte, seine sieben Sachen zu packen und nach Peru oder nach
Venezuela zurückzukehren, um dort den Guerrillakampf mit zu organisieren. In
dem Café mit Blick auf das Denkmal Diderots erfuhr er vom gewaltsamen Vorgehen
der Polizei der V. Republik gegen algerische FLN-Sympathisanten auf einer
Demonstration, die nur wenige Tage zuvor stattefunden hatte. Ihn jedoch brachte
eine Maschine der Air France nach Berlin-Tempelhof. Die erste Nacht in Berlin
verbrachte der angehende Stipendiat im Hotel Adlon, dem gleichen Hotel, in dem fünfzehn
Jahre zuvor, die denkwürdige Begegnung von Herrn Krauss mit Herrn Klemperer
stattgefunden hatte. Das sollte er als ein gutes Omen für sein
Doktorandendasein ansehen. Fast eine Woche nach seiner Abreise kam er am größten
Kopfbahnhof Europas an, stieg in ein Taxi und fuhr in das in der Lumumbastraße
nahe dem Zoo gelegene Internat. So war es bald ein vertrauter Anblick, wenn er
vor dem Fenster des Hauses Nr. 4 hinter einer Mauer die langen gefleckten Hälse
zweier Giraffen auftauchen sah. Noch am gleichen Abend spazierte er durch die
Hainstraße bis hin zum Markt vor dem Alten Rathaus. Mit einem erheiternden Gefühl
des déjà-vu lief er weiter durch die Mädlerpassage, bis zu
dem Kino, das er suchte. Er sah auf der Leinwand Helene Weigel als Mutter
Courage mit ihrem Marketenderwagen, hörte sie singen. Wo es war, soll ich
werden. Dieser Satz von Freud war einer der ersten, den er in Bogotá in seinen
Deutschstunden auswendig gelernt hatte. Wo ich jetzt bin, bin ich da, wo ich
sein möchte, dachte er. In Deutschland, in Leipzig, einer Stadt, die García Márquez
Jahre vorher, allerdings nur auf der Durchreise, als die unheimliche Kulisse
eines expressionistischen Films bezeichnet hatte.
Gewiß wird sich jeder
der hier im Saal sitzenden Literaturwissenschaftler gesagt haben, als das
Flugzeug des in seiner Lektüre vertieften Stipendiaten den Atlantik überflog:
diese erzählende Einstiegspassage kann nicht nur eine Form der captatio
benevolentia sein. Sollte man darin eine Metapher, eine Allegorie seines
Werdegangs sehen? Seit Frazers Theorie der Magie und Freuds Lehr vom Unbewußten
erweitete sich die Bedeutung der Metapher, um jegliche Ähnlichkeit und Analogie
zu bezeichnen. In dem Maße, in dem der Diskurs immer spezialisierter wurde, wie
unser Leben auch, verwandelte sich die Metapher in eine Figur, die es gestattet,
Verbindungen zu knüpfen. Diese Bedeutung leitet sich aus dem etymologischen
Sinn der Metapher als einer Brücke her, die ein Hinübergelangen, ein Verbinden
und Transferieren ermöglicht.
Ja, das alles steht
fest. Doch kehren wir zum Stipendiaten zurück, der im September 1961 glücklich
am Tag seiner Ankunft in Leipzig im Kino Capitol sitzt. Denn Brechts Ästhetik
war das A und O, das Modell einer Kunst des Zeichens und des Genusses.
Selbstverständlich war die Genealogie des angehenden Doktoranden
– wie konnte es anders sein -, eine deutsche: die der großen deutschen
Romanisten Vossler, Spitzer, Auerbach, deren Bücher von Exilspaniern in Mexiko
und Buenos Aires übersetzt worden waren. Doch zu dieser Genealogie gehörte
selbstverständlich auch das philologische Werk eines Menéndez Pidal, der
ebenfalls von der ersten und der zweiten Generation deutscher Hispanisten sein
Handwerk gelernt hatte, sowie die Abhandlungen von Alfonso Reyes, von denen
einige in Madrid an dem Institut entstanden sind, das Menéndez Pidal leitete.
Bei ihrem Studium hatte er erfahren, zu welchen Einsichten jene Philologie
gelangen kann, die sich auf den konkreten sprachlichen Gehalt des literarischen
Werkes einläßt. Aber ebenfalls, Mißtrauen gegen die maßlose Überbewertung
der ästhetischen Aspekte der Sprache und gegen die These von Menéndez Pidal zu
entwickeln, derzufolge die historische Erinnerung Spaniens vor allem im Leben
einer Text-Tradition erhalten geblieben sei. Aus Deutschland stammten die
Grundtexte der Phänomenologie und der Hermeneutik, die er in den Übersetzungen
der spanischen Exilierten las und die ihn lehrten, dass die Bedeutung nicht
etwas ist, das aus einem Gegenstand oder einem Text zutage gefördert wird,
sondern ein Ereignis, das in und vermittels der Interpretation stattfindet, die
letzten Endes auch - wie ein früherer
Rektor der Leipziger Universität sagte - den Interpreten verändert. Jedoch
weder das Eine noch das Andere genügte. Um darüber hinaus zu gehen und die
Leidenschaft des Denkens zu erlernen, sollte man nicht in Madrid studieren,
nicht in Paris oder in Baltimore, sondern in Deutschland, in Berlin, wo sich das
Brechts Berliner Ensemble befand, und eben in Leipzig.
Warum die
Anziehungskraft Leipzigs und nicht etwa Frankfurts? Denn das Institut für
Sozialforschung und die Arbeiten über den autoritären Charakter von Erich
Fromm, der nach Mexiko emigriert war und des in Kalifornien lebenden Herbert
Marcuse, waren auch in Kolumbien bekannt, und man wußte, Max Horckheimer, Autor
des programmatischen Artikels Philosophie und kritische Theorie, war
jetzt in Frankfurt ansässig. Seine Argumentation, welche theoretischen und
praktischen Konsequenzen die moderneTrennung von Wissenschaft und Philosophie,
von Gesellschaft und Individuum, von Staat und Gesellschaft nach sich ziehen,
weckte das besondere Interesse. Obwohl man nicht recht verstehen wollte, warum
Horckheimer auf der einen Seite die Existenz der Philosophie ratifizierte und
ihre soziale Funktion unterstrich und auf der anderen Seite sie auflösen
wollte, sie mit der Wissenschaft in etwas, das weniger als die Philosophie und
mehr als die Wissenschaft war, in die „Kritische Theorie“, umwandeln wollte.
Theodor Wiesengrund
Adorno
irritierte und war kaum bekannt. Seine Kritik an Lukàcs und dessen
Antimodernismus erfolgte nicht nur zu Recht und war willkommen, doch die
Ablehnung der Avantgarde, eben der Kunst, die den Stipendiaten und seine
Mitstreiter anzog, forderte ihren Widerspruch heraus. Francisco Posada, der
beste Freund in Bogotá, ging nach Frankfurt. Nach einem Semester Adorno verließ
er die Stadt und beschloß vielmehr, eine Didaktische Analyse mit Lacan zu
beginnen. Seine Erfahrungen nährten in dem Stipendiaten das Bild von den
Frankfurtern als den Tuis par excellence.
Für den Randteilnehmer
am großen Wissenschaftsgeschehen sollte Leipzig, so stellte er es sich vor, die
einzigartige Möglichkeit bieten, die Vorlesungen von Hans Mayer und von Ernst
Bloch zu belegen. Immerhin hatte er bereits Fragmente aus dem Prinzip
Hoffnung übersetzt. Er würde an den Seminaren über Geschichte, die Walter
Markov abhielt, teilnehmen können, sich aber vor allem die Denk- und
Arbeitswerkzeuge aneignen, die spezifischen literaturwissenschaftlichen Mittel,
mit denen Werner Krauss die Gegenwart aufarbeitete. Das war sein Auftrag. Über
Brecht und nicht über Adorno fand er Zugang zu Benjamin, und auf diesem Wege
gehörte Benjamin auch zu Berlin-Leipzig. Frankfurt war eine Schule, die um den
denkwürdigen platonisch-aristotelischen Begriff der „Kritischen Theorie“
kreiste. Die Beiträge der Leipziger bildeten hingegen etwas anderes heraus,
nicht eine Ansammlung von Disziplinen, die das Erbe der Geistesgeschichte
begraben hatten, sondern, um einen Begriff aus den späten 60er Jahre zu
verwenden, eine Diskursformation. Deshalb war Leipzig ein Fest, nicht Paris,
nicht Frankfurt. Dass die Dinge einen anderen Verlauf nehmen sollten und 1965
nur noch Markov in Leipzig wirkte, das steht auf einem andere Blatt.
Jedenfalls gab es in der
damaligen Karl-Marx-Universität für den neuen Stipendiaten keine
Initiationsrituale in das akademische Leben. Die Universität bildete einen
Mikrokosmos in einem anderen Sinn. Tage- und nächtelange Gespräche mit
Studenten aus dem Kongo, die nach der Ermordung von Lumumba aus ihrem Land
fliehen mußten, mit Studenten aus dem Iran des Reza Palevi, aber auch mit
jungen Intellektuellen aus Katalonien und aus Guatemala bezeugten die Omnipräsenz
von Unrecht und die Notwendigkeit des Widerstands. Von Jürgen Teller, der
Bloch-Assistent, dem es verwehrt war, über das Naturgefühl bei Neruda zu
promovieren, hörte der Stipendiat die Formel von der Diskrepanz zwischen
Programm und Realität. Die Lektorin im Reclam-Verlag Helga Bergmann führte ihn
in die Kunst des passionierten Büchermachens ein.
Nach vier Jahren Leipzig
und Berlin und der Verteidigung seiner Inaugural-Disseration über ein
spanisches Thema hatte sich der nunmehr ausgewiesene Hispanist auch
Lateinamerika neu angeeignet. Und dann, nach weiteren vier Jahren Tätigkeit an
der Nationaluniversität von Bogotá, war ich etwas, das damals noch keinen
Namen besaß: Ich war „Lateinamerikanist“. Die Lateinamerikanistik, die sich
erst in den letzten fünfundzwanzig Jahren gefestigt hat, würde nicht
existieren ohne die spanischen Exilierten, die die Texte der deutschen
Philosophen und Literaturwissenschaftler übersetzten, ohne die Werke der
bereits zu Klassikern gewordenen Gelehrten Alfonso Reyes und Pedro Henríquez
Ureña. Nicht ohne die Texte der Generation, der Borges, Neruda und Carpentier
angehören, und der späteren von Fuentes und García Márquez. Und nicht ohne
die kritischen Stimmen von Essayisten und Schriftstellern wie Carlos Monsiváis,
Sergio Ramírez und Silviano Santiago. Nicht ohne die Literatur- und
Kulturwissenschaftler, die das neue Bild Lateinamerikas mitgeprägt haben.
Admirada Vittoria Borsò, wenn es nach dem Ende des Kalten Krieges die deutsche
Lateinamerikanistik von ihrem eigenen Standort her erreichte, in die
internationale Debatte einzugreifen und ihren Beitrag zu leisten, die Agenda des
Faches und das Fach selbst neu zu bestimmen, so war das eine Leistung wider sehr
gefestigte Vorstellungen. Die Impulse, die heute notwendig sind, werden aus der
Vernetzung hervorgehen, aus der Teamorientierung solch innovativer
Institutionen, wie es diejenigen sind, an denen Sie, Vittoria Borsò und Sie,
lieber Alfonso de Toro, erfolgreich wirken.
Ihnen beiden, meinem
Weggefährten seit jenen ersten Leipziger und Berliner Jahren, Karlheinz Barck,
Hans Ulrich Gumbrecht und Arcadio Díaz-Quiñones, den Kolleginnen und Kollegen
der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig möchte ich aufrichtig für
die große Ehre danken, die mir am heutigen Tag zuteil wird.