V. Einfluss der Aufmerksamkeit, Ermüdung und Übung auf die Dauer psychischer Prozesse.



    Wir haben gesehen, dass, während die einfache Reaktionszeit etwas verlängert wird, wenn sich die Aufmerksamkeit nicht so vollständig auf den Moment des Eindrucks vorbereiten kann, sie bei geübten Versuchspersonen kaum verändert wird durch verschiedene Grade der Aufmerksamkeit. Eine ähnliche Untersuchung habe ich angestellt für Prozesse, bei denen es notwendig war, zu unterscheiden und zu wählen. Als typische Fälle wählte ich erstens die Zeit, welche man braucht, um eine weiße Fläche zu erkennen und dies durch eine Bewegung der Hand auszudrücken; zweitens die Zeit, die man braucht, um einen Buchstaben zu erkennen und zu benennen. Einmal strengte sich der Reagierende durch möglichste Konzentration der Aufmerksamkeit und möglichste Vorbereitung an, so schnell als möglich zu reagieren; das andere Mal wurde der Eindruck in unregelmäßigen Intervallen (3/4—15") nach dem Signal hervorgebracht, so dass die Aufmerksamkeit nicht im Zustande der größten Bereitschaft gehalten werden konnte.

Tabelle XLI.


 

 

Gespannt abgelenkt
B.
C.
B.
C.
R
R’
R
R'
R
R'
R
R'
Weißes Licht
4. IV. 192 194 236 234 333 321 273 278
5. 196 193 235 237 250 233 256 254
6. 186 191 230 231 244 234 234 229
7. 192 194 246 249 239 239 246 248
M. 191 193 237 238 266 257 252 252
M. V. 13 6 13 10 38 23 16 9

 

Gespannt abgelenkt
B.
C.
B.
C.
R
R’
R
R'
R
R'
R
R'
Buchstaben
4. IV. 334 335 395 398 387 388 441 442
336 333 397 402 371 366  403 411
5. 335 337 404 410 373 377 432 435
6. 333 336 395 397 343 350 422 418
7. 331 333 410 408 340 339 427 426
M. 334 335 400 403 363 364 425 426
M.V. 29 20 21 13 33 20 26 16

 

    Je nachdem der eine oder der andere Grad von Aufmerksamkeit oder Bereitschaft vorhanden ist, ergeben sich für die Zeit, welche erforderlich ist, um eine weiße Fläche zu erkennen und darauf zu reagieren, Werte, deren Differenz für B. 75, für C. 15s beträgt, bei der Zeit der Erkennung und Benennung von Buchstaben eine Differenz von 29s für B., 25 für C.

    Da ich überall in den Tabellen die Data angegeben habe, an denen die Reihen gemacht wurden, und da ich keine einzige Reihe weggelassen habe, so kann man den Einfluss andauernder Übung aus der Vergleichung sämtlicher Tabellen bequem ersehen. Schon vorher hatten zwar B. und C. ziemliche Übung im Ausführen von einfachen Reaktionen; für die übrigen hier betrachteten Prozesse gilt das aber nicht. In den 20 Reihen einfacher Reaktionen auf Licht (Tabelle I), die innerhalb 6 Monaten angestellt waren, ist keinerlei Kleinerwerden der Zeit bemerkbar. B. 's Reaktionszeit war jedoch kürzer 1884—1885 als 1883—1884, wie man aus Tabelle VI sehen kann, wo seine Reaktionszeit besonders für Licht beträchtlich länger ist als die C.'s. Am Ende der Untersuchung wiederholte ich die zu Anfang gemachten Versuche, bei denen auf eine von mehreren Farben, einen von mehreren Buchstaben, eins von mehreren Wörtern zu reagieren war (Tabelle XIX, XXIV und XXVII), und fand, dass die Zeiten besonders für B kürzer geworden waren. Es ergaben sich folgende Änderungen:

      B.         C.


Farben            — 28        +3
Buchstaben      —50     —13
Wörter             —54     —35

    Beim Benennen von Farben und Bildern wurden ebenfalls, wie oben erwähnt, die Zeiten durch Übung kürzer.

    In einzelnen Fällen, wo die Aufmerksamkeit abgelenkt war, accommodierte sich dieselbe den veränderten Bedingungen, und die Zeiten wurden wieder kürzer. Es kann hierbei als Gesetz aufgestellt werden, dass die psychischen Prozesse bis zu einer bestimmten Grenze um so kürzer werden, je mehr sie automatisch geworden sind, dass aber die Übung wenig oder gar keinen Einfluss mehr hat, sobald diese Grenze erreicht ist.

    Um den Einfluss der Übung noch weiter zu prüfen, wurden die Untersuchungen im April 1885 unterbrochen, nach einer Pause von 3 Monaten, während deren keine Versuche gemacht wurden, wieder aufgenommen, und die Zeiten der wichtigsten Prozesse wiederum gemessen. Es wurden je 5 Reihen einfacher Licht- und Schallreaktionen gemacht, je 5, in denen nur auf weiß, nur auf einen bestimmten Buchstaben, nur auf eine bestimmte Farbe, auf andere gleichartige, damit wechselnde Eindrücke nicht zu reagieren war, endlich je 5, in welchen Buchstaben, Farben, kurze Wörter erkannt und benannt wurden.

Tabelle XLII.


 

 

B.
C.
R
V
D
R'
V’
R
V
D
R'
V’
Lichtreaktion 139 12
—11
140 8 167 13
+17
167 9
Schallreaktion 122 7
— 3
121 5 141 9
+16
139 6
Weißes Licht 212 12
+ 1
211 6 254 13
+13
254 8
Buchstaben 305 22
+19
304 14 309 26
— 3
307 18
Farben 258 22
— 1
256 17 289 24
— 4
284 15
Buchstaben 354 25
—41
353 17 425 22
+ 1
428 14
Farben 402 33 
—92
400 23 609 71
+ 8
600 50
kurze Wörter 331 17
—41
330 12 410 20
+ 5
410 14

 

    Vergleicht man diese Zeiten mit den entsprechenden der vorigen Abschnitte, so findet man, wie die Werte unter D zeigen, dass kein großer Unterschied vorhanden ist, nur sind im Allgemeinen die Zeiten von B. etwas kürzer, die von C. etwas länger geworden.

    Wir kommen nun zum Einfluss der Ermüdung. Dieser ist gerade wie der der Aufmerksamkeit bedeutend überschätzt worden; viele Experimentatoren haben nur wenige Versuche in einer Reihe und an einem Versuchstage gemacht, damit der Reagierende nicht ermüdet werden sollte. Um den Einfluss der Ermüdung innerhalb einer Versuchsreihe zu untersuchen; nahm ich 30 Reihen von Lichtreaktionen und berechnete das Mittel aus den ersten Reaktionen jeder Reihe, ebenso das Mittel der zweiten Reaktionen und so durch bis zur 26sten, mit der die Reihe geschlossen war. In gleicher Weise nahm ich 200 Reihen, in denen die Versuchsperson erst einen Eindruck zu unterscheiden und dann zu reagieren hatte und berechnete wiederum das Mittel aller ersten, aller zweiten u. s. w. Reaktionen. Die Eindrücke waren in den verschiedenen Reihen verschieden, aber im Verlaufe jeder einzelnen Reihe dieselben. In diesen Reihen waren bloß je 13 Bestimmungen, aber es fanden 26 Prozesse statt, und es ist wohl ebenso ermüdend, wenn ein Objekt nicht da ist, die Reaktion zu verhindern, als das Objekt zu sehen und zu reagieren. Die gefundenen Zahlen sind in der folgenden Tabelle enthalten.

Tabelle XLIII.

 

B.
C.
 

 

B.
C.
 

 

B.
C.
R
V
R
V
R
V
R
V
R
V
R
V
I. 136 18 139 15 XIV. 147 9 151 10 I. 277 30 306 29
II. 146 14 155 13 XV. 147 9 151 8 II. 287 25 308 22
III. 144 11 150 9 XVI. 149 12 148 8 III. 294 25 308 23
IV. 145 16 149 10 XVII. 152 12 154 12 IV. 298 22 316 28
V. 143 9 149 10 XVIII. 152 8 152 10 V. 297 25 314 23
VI. 142 18 149 13 XIX. 151 9 154 13 VI. 300 25 317 22
VII. 147 10 151 13 XX. 148 10 151 12 VII. 292 21 318 24
VIII. 148 10 150 11 XXI. 150 13 148 9 VIII. 298 23 319 23
IX. 155 13 149 7 XXII. 152 12 150 10 IX. 299 20 319 23
X. 145 9 151 9 XXIII. 147 8 146 12 X. 297 23 322 24
XI. 143 13 147 9 XXIV. 152 13 144 10 XI. 297 23 319 22
XII. 154 14 147 13 XXV. 150 13 144 11 XII. 293 20 322 23
XIII. 153 16 152 11 XXVI. 150 15 150 10 XIII. 295 22 317 23
M.

 

 

 

 

 

148 12 149 11

 

294 23 316 24

 

    Man erkennt, dass die ersten Reaktionen ein wenig kürzer, dass die Zeiten aber im Übrigen bei den späteren Reaktionen nicht länger waren als bei den vorhergehenden. Demnach ist wohl anzunehmen, dass man bei den ersten Versuchen einer Reihe unwillkürlich gespannter aufmerksam ist als bei den späteren, dass aber das Gehirn im Allgemeinen nicht ermüdet wird, wenn man 26 psychische Prozesse nach einander ausführt. Die Verkürzung tritt mehr hervor, wenn weißes Licht zu unterscheiden war, als bei den einfachen Reaktionen, wie überhaupt bei den Unterscheidungs- und Wahlversuchen Änderungen der Aufmerksamkeit einen größeren Einfluss haben. Auch ist die Verkürzung bedeutender bei B. als bei C.

    Um den Einfluss der Ermüdung noch weiter zu untersuchen, machte ich ausgedehnte Versuchsreihen (1960 Versuche) in der Weise hintereinander, dass derselbe Reagierende vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein fast ununterbrochen zu reagieren hatte. 3 Reihen einfacher Reaktionen (75 Versuche) wurden auf Licht gemacht; 3 Reihen (39 Bestimmungen, aber 78 geistige Prozesse), bei denen ein weißes Licht zu unterscheiden und darauf zu reagieren war; 3 Reihen, in denen Buchstaben erkannt und benannt wurden, 2 Reihen Assoziationsprozesse,l) endlich 3 Reihen einfacher Schallreaktionen. Diese ganze Folge von Reihen wurde 6mal wiederholt. Die Versuche begannen bei beiden Personen um 7 Uhr 30 Min. Morgens und dauerten bei C. bis l Uhr 30 Min. Morgens, bei B. bis 11 Uhr Abends. Kurze Pausen wurden gemacht zum Mittag- und Abendessen. Eine Reihe jeder Art wurde am anderen Morgen und wiederum am Abend ausgeführt, eine weitere Folge von Reihen bei C. am zweitfolgenden Tage. In der Tabelle gebe ich zunächst die Mittelwerte und mittleren Variationen der ersten Folge von Reihen an. Bei den späteren Folgen teile ich der Übersichtlichkeit wegen nur die Zu- oder Abnahme gegen den Wert der entsprechenden Reihen der ersten Folge und gegen die mittlere Variation derselben mit. Die korrigierten Werte gebe ich hier nicht an, weil sie mit den unkorrigierten fast vollständig übereinstimmten.

        l) Nähere Angaben hierüber muss ich aufschieben bis zur Veröffentlichung meiner Versuche über Assoziation.
 
 


Tabelle XLIV.


 

 

Licht
Weißes

Licht

Buchstaben
Assozia-

tionen

Schall
B.
31. III. 7. 30 Vm.

9.40

l. Nm.

2.50

6.55

8.50

157
12
198
21
344
25
733
103
139
9
— 1
— 1
— 5
—4
+10
+2
— 98
— 17
— 3
— 1
—14
—2
+ 9
—4
— 7
+9
— 59
— 11
+11
+10
—10
— 3
+ 9
+4
+4
+ 1
— 2
— 8
–7
— 2
+ 1
–2
+34
—3
+12
+ 6
— 81
— 39
+ 3
+2
+ 5
+ 1
+20
—2
+37
+5
+228
+121
+10
+ 1
l. IV. 8. 30 Vm.

8. Nm.

—17
— 2
—10
+1
+21
+9
+ 83
+ 2
—16
— 2
— 7
+3
+ 2
—5
+ 1
+10
+153
+ 68
— 2
+ 5
C.
26. III. 7. 30 Vm.

10.55

2. 40 Nm.

7.20

9.20

11.40

156
10
247
12
439
23
827
125
144
13
+10
+ 3
—17
+4
–8
— 4
+ 9
+ 8
+ 2
— 3
+28
+ 5
+ 1
+9
+9
0
+ 12
+ 43
+15
+ 1
+19
+ 1
—10
+7
+19
— 3
+ 58
+ 5
+15
— 3
+33
+ 7
+ 6
+9
+37
+ 3
+163
+ 23
+19
+ 4
+34
+ 8
+ 2
+4
+30
0
+111
+ 10
+11
0
27. III. 8. 30 Vm.

8. Nm.

28. 8. 30 Vm.

+27
+ 1
+ 6
+7
— 3
+5
+ 19
+ 7
+20
+ 5
— 2
+2
+11
— 3
— 12
— 41
+20
— 2
+25
+12
— 1
+5
— 5
— 3
+ 42
+ 44
— 6
— 1

 

    Das hauptsächlichste Resultat, welches man aus der Tabelle ablesen kann, ist, dass der Einfluss der Ermüdung sehr gering war; die Zeiten sind in keinem Falle mehr verlängert worden als um ein paar Hundertteile einer Sekunde, auch die mittleren Variationen sind nur unbedeutend gewachsen. Ebenso fühlte sich die Versuchsperson nicht ermüdet, obwohl der Ablesende, der an den Apparaten fortwährend zu arbeiten hatte, ziemlich abgespannt wurde. Wir kommen somit zu dem Resultate, dass die Vorgänge, welche am meisten automatisch sind, nämlich die Erkennung und Benennung von Buchstaben und C.'s einfache Reaktionszeit, von der Ermüdung am meisten beeinflusst wurden.

    Die am zweiten Tage ausgeführten Versuche zeigen, dass bei B. über Nacht die Ermüdung verschwunden war; bei C. dagegen waren vermutlich diejenigen Veränderungen im Gehirn, welche auf die einfachen Reaktionen von Einfluss sind, bis zum zweiten und auch bis zum nachfolgenden Tage noch nicht wieder ausgeglichen.

    Die von mir mitgeteilten Versuche zeigen von neuem, dass es möglich ist, exakte Methoden zur Erforschung der psychischen Prozesse anzuwenden. Wir haben die Dauer von Vorgängen bestimmt, welche einen großen Teil unseres geistigen Lebens ausmachen, und haben gefunden, dass diese Zeiten unter gleichbleibenden Bedingungen konstant sind; sie sind unter dieser Voraussetzung zufälligen Schwankungen in nicht höherem Grade unterworfen als etwa die Geschwindigkeiten des Schalls oder des Lichtes. Ich werde demnächst eine Folge von Versuchen veröffentlichen, die einen Schritt weitergehen und die Dauer geistiger Prozesse bestimmen, welche weiter abliegen von den psychophysischen Vorgängen, die sieh auf Empfindungen und Bewegungen beziehen.