VI. Gründe bezüglich der Repräsentierbarkeit des allgemeinen
Zusammenhanges der sog. Molekularerscheinungen. 1)

    Hier nur von Gründen und Gegengründen allgemeiner Natur, die sich auf das sogenannte Molekulargebiet beziehen, indes das folgende Kapitel in wichtigere Spezialitäten desselben Gebietes eingeht.

1) Diese Gründe sind mit den zwei ersten Gründen des folgenden Kapitels in der vorigen Auflage als Gründe zweiter Ordnung aufgeführt.
 
 
    Was ich hier im Allgemeinen geltend mache, ist, dass der Atomistiker alle mit der Grundkonstitution der wägbaren Körper in Beziehung stehenden Eigenschaften und Verhältnisse derselben, als da sind: verschiedene Dichtigkeit, Härte, Elastizität, Blätterdurchgänge, Ausdehnung durch die Wärme, Kristallform, Aggregatzustände, chemische Proportionen, Isomerie u. s. w. unter einfachen, klaren und klar darstellbaren Gesichtspunkten verknüpfen und denselben Prinzipien des Gleichgewichts und der Bewegung unterordnen kann, auf welche er auch sonst überall Klarheit, Präzision und Ableitungen zu gründen vermag, auf welche sich überhaupt die physikalische Methode stützt. Die Atomistik ist gleichsam der Schlüssel, mit dem der Physiker die Tür eines den Sinnen verschlossenen Zimmers auftut und den Zusammenhang desselben mit dem ihm unmittelbar zugänglichen öffnet. Die dynamische Ansicht hält die Tür geschlossen und spricht nur in geheimnisvollen Worten von Dem, was hinter der Tür ist, doch die Scheidewand bleibt und soll nach der dynamischen Ansicht bleiben. Der Physiker tut in der Tat mit der atomistischen Ansicht nichts, als die Prinzipien, die ihn im Sichtlichen sicher führen, konsequent bis ins Unsichtliche, d. i. für das Gesicht Verschwindende und Verschwimmende durchbilden. Dieselben Begriffe von Massen, Distanzen, Anordnungen, Bewegungen und Bewegungsgesetzen, welche den Vorbegriff seiner allgemeinen Körperlehre bilden, dienen ihm hier wie dort, und machen eben dadurch die Physik zum konsequenten System. Dieselben auf die Grundkonstitution der Körper und die davon abhängigen Erscheinungen in solcher Weise anwenden, dass Kleinstes mit Größtem in vorstellbaren und gesetzlichen Zusammenhang tritt, heißt eben Atomist sein und kein anderes Bedürfnis hat der Atomistik in der Physik Geltung verschafft und erhalten, zu einer ganz damit incommensurablen Behandlungsweise übergehen, heißt Dynamiker sein. Da handelt es sich von Cohäsionsrichtungen, Polaritäten, Potenzen, Differenzierung, Indifferenzierung, Allgemeinheit, Besonderheit, Individualität, Zentralität, Punktualität, Umschlagen, Aufheben der Begriffe in einander, Gleichsetzen des Entgegengesetzten, und was dergleichen mehr ist, womit noch nie eine physische Realität gefunden, ja kaum eine klar und ohne Vieldeutigkeit bezeichnet worden ist. Es ist ein reicher Segen von erhabenen Worten, über die Materie und die Tatsachen, die von der Physik gefunden worden sind, von der Philosophie gesprochen, nun wollen wir gegen diesen Segen nichts haben, er soll sich nur für etwas über der Sache, nicht eine Arbeit in der Sache geben und nicht die Hände binden, womit man etwas schafft.

    In der Tat hängt die philosophische Bearbeitung der Dinge, wie sie heutzutage ist, gar nicht zusammen mit der physikalischen Bearbeitung der Dinge; so gut aber die Philosophie in ihrem eigenen Gebiete auf durchgreifenden Zusammenhang und konsequenteste Durchbildung ihrer obersten Begriffe und allgemeinen Methoden zu halten hat, und nur eben darin Philosophie ist, muß sie der Physik dies lassen, ja von ihr fordern, damit sie nicht nur Physik bleibe, sondern auch philosophische Physik werde. Denn die der Physik immanente Philosophie, wie jeder Wissenschaft, besteht nicht darin, dass sie von einem gewissen Punkte ihres Gebietes an die ihr eigentümlichen allgemeinen Kategorien und Methoden fallen lasse und auf die der Philosophie überspringe, sondern dass sie die ihr wesentlichen konsequent bis ins Letzte durchbilde. Ganz abgesehen also von den fachlichen Bewährungen der Atomistik ist der Physiker formell philosophisch dazu genötigt. Möchten dies doch diejenigen Physiker bedenken die der Philosophie zu Liebe der Atomistik absagen. Sie mag durch die Philosophie draußen verworfen werden aber sie wird durch die Philosophie drinnen gefordert; und zwar wird sie verworfen durch eine Philosophie, die in sich selbst und mit der ganzen Naturwissenschaft zerworfen ist, gefordert durch die Philosophie, welche in der Einstimmung der Wissenschaft selbst, um die sich’s handelt, mit sich besteht.

    Der Philosoph sagt nun wohl: darin eben liegt der Fehler, dass die Physik ganz unter einander unvergleichbare, in ihren Verhältnissen incommensurable Erscheinungsgebiete denselben Prinzipien der Betrachtung und Erklärung unterordnen will. Aber warum sollte sie es nicht wollen, wenn sie es kann; damit beweist sich doch eben, dass diese Gebiete nicht so unvergleichbar und incommensurabel sind, als sie dem rohen Blick erscheinen mögen und von den Philosophen ausgegeben werden. In der Wissenschaft gilt wie im Leben die Macht. Was jede kann das hat sie. Ja liegt nicht darin der Triumph jeder Wissenschaft, der Beweis der Höhe, Kraft und Fruchtbarkeit ihrer Prinzipien, dass sich das scheinbar weit Abliegendste, Heterogenste darunter fassen, dadurch verknüpfen läßt? Geht nicht dahin eben auch das Streben der Philosophie; ja was will sie anders bei vorliegender Frage, als ihre Einheitsprinzipien zur Verknüpfung des Heterogenen der Physik für die, deren sich diese bedient, aufdringen? Da aber der Physiker weder in der Astronomie noch in der Chemie etwas mit diesen Prinzipien leisten kann, so kann ihm auch die Verknüpfung beider Gebiete auf diesem Wege nichts leisten. Dazu braucht er eben die Atomistik; und nimmt man ihm diese, so gibt es für ihn keine Verknüpfung beider Gebiete.

    Wie wenig man sich von der scheinbaren Heterogeneität zweier Gebiete täuschen lassen darf, wenn es die Frage gilt, ob sie gemeinschaftliche Erklärungsprinzipien zulassen, dafür lassen sich tausend Beispiele geltend machen. Das Licht scheint, der Schall klingt; will der Philosoph etwa auch a priori schließen, die Undulationstheorie sei nicht auf beide gemeinschaftlich anwendbar? Was kann verschiedener erscheinen als die Bewegungen der Planeten im Himmelsraume und die Töne eines musikalischen Instruments. Und doch kann man den Kreislauf der Planeten nach keinen anderen mechanischen Prinzipien und mit Hilfe keiner anderen Begriffsbestimmungen und Begriffszusammenhänge berechnen, als die Schwingungen eines tönenden Körpers. Warum sollte es denn der Physik verwehrt sein, in den Kreis solch gemeinschaftlicher Erklärungsprinzipien auch die Erscheinungen der Kristallisation, der Cohäsion zu ziehen? Ja warum sollte sie das Feine, Kleine nicht unter dieselben Prinzipien fassen dürfen als das Grobe und Große, weil im Kleinen für das Auge zusammenfließt, was sich im Großen breit auseinanderlegt. Um weiter nichts aber handelt sich’s in der Atomistik.

    Eine rasche Exposition in Bezug auf die Gesamtheit jener Verhältnisse mit spätem Eingehen in einige der wichtigeren Beispiele (Kap. 7) mag zum Belege des Vorigen genügen. Mit der Vorstellung diskreter Körperteile ist die Möglichkeit einer verschiedenen Nähe und Ferne derselben, einer abwechselnden Näherung und Entfernung, einer verschiedenen Entfernung nach verschiedenen Richtungen, einer verschiedenen Gruppierung, abgeänderter Kraftbeziehungen je nach Anordnung und Entfernung, hiervon abhängiger stabiler und nicht stabiler Lagen des Gleichgewichts, die Möglichkeit von Übergängen aus einer Lage stabilen Gleichgewichts in die andere, von kontinuierlichen Bewegungen in Bezug zu einander, mit Eins gegeben, und die Gesamtheit dieser Möglichkeiten sehen wir durch einen Kreis von Erscheinungen verwirklicht, die freilich einzeln genommen sich auch anderer Deutung fügen mögen, doch zusammen gleichsam nur wie Strahlen des Sterns der Atomistik erscheinen, nur in deren Grundidee den Mittelpunkt und die Verknüpfung finden, als da sind die Verschiedenheiten, die Wechsel, die Übergänge der Dichtigkeit, des Gefüges, der Aggregatzustände der Körper, die Blätterdurchgänge und sonst verschiedenen Eigenschaften der Kristalle nach verschiedenen Richtungen, die Elastizität und das Überschreiten der Elastizitätsgrenze, die kontinuierlichen organischen Bewegungen. Mit diesem Zusammenhange der Erscheinungen des Wägbaren steht der früher besprochene Zusammenhang der Erscheinungen des Unwägbaren selbst im innigsten Zusammenhange, und mit dem Gesamtzusammenhange dieser physischen Erscheinungen noch der Zusammenhang der chemischen. In der Tat ist mit der Diskretion der Teilchen nun auch noch die Möglichkeit gegeben, dass die Teilchen verschiedener Körper zwischen einander eindringen, dass sie ungeändert wieder zwischen einander hervortreten, dass sich dieselben Bestandteile in verschiedenen Anordnungen gruppieren und, welches auch die Kraftbeziehungen zwischen den verschiedenartigen Atomen sein mögen, so läßt sich übersehen, dass ein Zustand stabilen Gleichgewichts nicht wohl anders bestehen könne, als bei gleicher Abwägung ihrer Kräfte durch gleichförmige Austeilung zwischen einander; und hiermit haben wir die Auflösung, Verbindung und Scheidung, die festen Proportionen, die Isomerie, einschließlich Metamerie und Polymerie, in derselben einfachen Grundvorstellung begründet, die jene physikalischen Verhältnisse des Wägbaren und Unwägbaren in Eins verknüpfte.

    Dieselbe Grundvorstellung aber, die Physik und Chemie verknüpft, knüpft beide nun auch noch an die Astronomie, in der dieselben Verhältnisse nur im Großen wiederkehren, die dort im Kleinen walten.

    So schließt sich durch die Atomistik Alles vom Größten bis zum Kleinsten und nach den verschiedensten Richtungen in ein Reich zusammen, und eine allgemeine Klarheit geht durch dieses Reich.

    Gegen all das hat sich der sonderbare Einwurf erhoben 2), es werde nichts durch die Atomistik für die Erklärung spezieller Erscheinungen im sog. Molekulargebiete wie überhaupt gewonnen, weil für jede einzelne Erscheinung und Gruppe von Erscheinungen neue Annahmen im atomistischen Sinne nötig werden.

            2) Fichte’s Zeitschr. 1856. S. 192 ff.

    Nun aber ist doch selbstverständlich, dass zu jeder neuen Erscheinung und jedem neuen Kreise von Erscheinungen neue Bedingungen gehören und also auch anzunehmen sind, und man sieht nicht ein, wie aus Erfüllung dieser selbstverständlichen Forderung der Atomistik ein Vorwurf erwachsen kann, bei deren Nichtbefriedigung es überhaupt keine Physik mehr gibt. Vielmehr eben darum, weil dieselbe Forderung durch die dynamische Ansicht nicht in konsequentem Zusammenhange befriedigt werden kann, ist keine Physik mit ihr und sie mit der Physik nicht möglich.

    Was der Philosoph mit Recht von einer fundamentalen Hypothese des Physikers zu verlangen hat, ist in der Tat nur dies, dass die Vorbedingungen aller einzelnen noch so mannigfaltigen Erscheinungen sich den einfachst möglichen, aber zur allgemeinen Verknüpfung und Ableitung aller möglichen Erscheinungen ausreichenden, Grundvorstellungen unterordnen lassen, und gerade das ist es, was die Atomistik im molekularen Felde und darüber hinaus, so weit überhaupt ihre Aufgabe reicht, auf wahrhaft bewunderungswürdige Weise leistet.

    Dann weiter ist der Atomistik zugemutet worden 3), es müsse erst gezeigt werden, durch welche Gründe die in jedem einzelnen Falle vorausgesetzten Molekularbewegungen hervorgerufen werden, und ferner müsse gezeigt werden, "wie aus dem bloß Formellen und Quantitativen der Gruppierung, Gestaltung und Bewegung alles dasjenige, was der gemeine Verstand als Qualitäten der Dinge zu bezeichnen pflegt .... also aus dem schlechthin Qualitätslosen das Qualitative, aus Nichts etwas hervorgehen könne."

            3) Fichte’s philos. Zeitschr. 1854. S. 207. 1856. S. 116.

    Was aber Ersteres anlangt, so ist es ja nicht die Aufgabe des Physikers, das Gegebene aus Nichtgegebenem, sondern aus Gegebenem das Nichtgegebene abzuleiten, wobei er nach vorwärts und nach rückwärts rechnen kann. Die Aufgabe, vom Nichtgegebenen aus vorwärts zu rechnen, fällt mit keiner dieser Aufgaben zusammen, und wird vom Philosophen, der am liebsten so rechnen mag, mit unrecht dem Physiker zugeschoben. Will der Physiker doch so rechnen, so muß er das Nichtgegebene hypothetisch oder schon rückwärts berechnet als gegeben voraussetzen. Seine Leistung hierbei ist, wie überhaupt, beschränkt, und richtet sich nach dem Entwickelungszustande der Wissenschaft. In soweit nun aber eine Rechnung für die Physik möglich ist, leistet sie mit Hilfe der atomistischen Ansicht entschieden mehr, als mit der dynamischen. Die Gegner selbst müssen es ja der Atomistik lassen, dass sie eine gute Rechnungshilfe sei, indem sie ihr sogar vorwerfen, dass sie nur eine gute Rechnungshilfe sei.

    Was das Zweite anlangt, so vermag die atomistische Ansicht freilich nicht zu erklären, warum eine Schwingung der Atome von dieser Schnelligkeit einen Ton von dieser Höhe erzeugt, warum eine Ätherwelle von dieser Länge statt Blau nicht vielmehr Rot oder Gelb an die Empfindung abgibt u. s. w. Nur ist das etwas, was keine Ansicht überhaupt erklären kann. Die dynamische Ansicht teilt in dieser Hinsicht vollkommen das Unvermögen der atomistischen Ansicht, die ganze Physik teilt es, die ganze Philosophie teilt es; woher dann die besondere Zumutung an die Atomistik, etwas zu leisten, was niemand leisten kann? In soweit aber hier etwas überhaupt zu leisten ist, ist es wieder die Atomistik und nur die Atomistik, die das Mögliche leistet.

    Die Physik kann nämlich, ohne irgend wie angeben zu können, wie aus dem Qualitätslosen Qualitäten oder aus diesen Qualitäten andere entstehen können, durch Erfahrung fundamental feststellen, an welcherlei Schwingungsschnelligkeiten, Wellenlängen (die selbst mit Schwingungsschnelligkeiten zusammenhängen) sich gegebene Tonhöhen, Farben knüpfen, und mit Rechnungshilfe zu den allgemeinsten Regeln der Entstehung solcher Schwingungsschnelligkeiten, Wellenlängen und hiermit der daran geknüpften Qualität gelangen. Den einzelnen Fall einer solchen Regel unterordnen, heißt dann im physikalischen Sinne die Entstehung der Qualitäten erklären. Das Prinzip der Ableitung solcher Regeln und der darauf zu gründenden Erklärungen erfährt nun aber eben durch die Atomistik die höchste Verallgemeinerung, deren es fähig ist, indes die dynamische Ansicht der Durchführung dieses Prinzips unübersteigliche Schwierigkeiten entgegensetzt. Gleich das erste Argument, die physikalische Erklärbarkeit der Farben durch Brechung betreffend, hat uns davon den Beweis gegeben.

    Die Entgegnung auf die Einwände S. 48 ff. ist aus einer allgemeineren Entgegnung in Fichte’s Zeitschr. 1857. S. 82 mit Abkürzung hierher übertragen.