Ein »Brown-Séquardscher« Fall.
Die Ansichten, welche in der Einleitung entwickelt worden sind, stützen sich vielfach auf eine pathologische Untersuchung, die ich in der Leipziger Nervenklinik — dank der liebenswürdigen Erlaubnis des Direktors, Herrn Geheimrats Prof. R. Flechsig — ausgeführt habe. Um sehr lange Anmerkungen zu vermeiden, gebe ich die hier hauptsächlich in Betracht kommenden Momente an (der vollständige Bericht ist im British Journal of Psychology, Juni 1905, erschienen).
Der Patient S. wurde vor vielen Jahren in den Rücken gestochen, woselbst die abgebrochene Spitze der Waffe unbemerkt verblieb. Im Laufe der Zeit hat sich dann diese Spitze ein wenig verschoben, so daß sie schließlich einen Druck auf die linke Seite des Rückenmarks, in der Höhe des sechsten Brustwirbels, ausübte; daraufhin erkrankte S. mit den bei solchen halbseitigen Beschädigungen des Rückenmarks gewöhnlichen »Brown-Séquardschen« Symptomen: am linken Beine waren nämlich die motorischen Fähigkeiten, am rechten die Tastempfindungen stark beeinträchtigt. Es wurden dann ausgedehnte Versuche (3800 Einzelmessungen) von mir angestellt, um an verschiedenen Teilen seines Körpers die Schwelle für Tasteindrücke, die Lokalisationsfähigkeit und die Schwelle für Bewegungsempfindungen festzustellen.
Es ergab sich, daß die Lagewahrnehmung vom linken Knie nach unten zu so gut wie vernichtet war, während sie sonst nirgends eine erhebliche Störung zeigte; in genau demselben Zustand befanden sich die Bewegungsempfindungen, da diese an dem linken Knie und allen darunter liegenden Gelenken fast aufgehoben waren, während sie am linken Hüftgelenke und am ganzen rechten Beine normale Werte aufwiesen. Die Ortswahrnehmung dagegen legte einen durchaus verschiedenen, vielmehr mit der Beschädigung des Hautsinnes zusammenfallenden Verlauf zutage: sie hatte also hauptsächlich am andern Beine gelitten.
Aus der sehr scharfen Trennungslinie zwischen den in bezug auf Lagewahrnehmung beschädigten und den gesunden Körperteilen entsteht eine große Wahrscheinlichkeit, daß die Lagewahrnehmung hauptsächlich von einem einzigen physiologischen Organ abhängt. Und diese Wahrscheinlichkeit wird beinahe zur Gewißheit dadurch, daß dieselbe scharfe Abgrenzung der Symptome nicht nur bei Läsionen des Rückenmarks, sondern auch bei solchen der Hirnrinde häufig vorkommen1). Denn hätten mehrere Organe (Gelenkfläche, Muskeln, Sehnen, Haut usw.) eine selbständige Fähigkeit zur Orientierung über die Gelenkwinkel, so könnten sie nicht insgesamt von kleinen Läsionen an beliebiger Stelle der Leitungsbahn paralysiert werden, sondern die Abschwächung des Orientierungsvermögens müßte nur sehr partiell sein; daß die Läsionen wirklich klein waren, wird durch die zeitweise außerordentlich kleine Ausdehnung der trotzdem sehr intensiven Symptome genügend bezeugt.
1) Siehe Dana, Journal of Nervons and
Mental Diseases, 1894; Wernicke, Arbeiten a. d. psychiat. Klinik in Breslau,
Heft II; Starr, Psych. Review, Bd. II; Frenkel, Neurolog. Zentralblatt,
1897, S. 688 und 734.
Und wenn das Hilfsmittel zur Orientierung über
die Gelenkwinkel überhaupt als einheitlich postuliert werden muß,
so ist es erst recht unmöglich, zwei verschiedene Hilfsmittel für
die Lage- bzw. die Bewegungswahrnehmung anzunehmen; denn die Beschädigungen
dieser beiden Fähigkeiten zeigen nicht nur im Falle von S., sondern
auch überall sonst einen genau parallelen Verlauf. Aber dann läßt
sich dieses Hilfemittel schwerlich mit irgendwelchen bemerkbaren Bewegungsempfindungen
identifizieren; denn sobald ein Gelenk in einer Lage ruht, so verschwinden
eben diese Empfindungen2); ferner sind diese Bewegungsempfindungen
äußerst gleichförmig3), so daß sie kaum
zwanzig unterscheidbare Stufen darbieten dürften, während doch,
um alle noch unterscheidbaren Winkel zu bestimmen, z. B. das Schultergelenk
etwa 200 000 Stufen, oder 300 mal so viel wie zwischen tiefstem Schwarz
und blendendem Weiß; besitzen müßte.
2) Diese Beobachtung war es, welche Goldscheider zur oben bestrittenen Hypothese drang, daß die Orientierung über den Gelenkwinkel während einer Bewegung zwar von der Gelenkfläche, aber während der Ruhe von der Haut und den Sehnen besorgt wird. Dieser vermeintlichen Fähigkeit der Haut ist nicht nur durch die obigen Betrachtungen, sondern in direkter Weise durch meine Beobachtungen an S. widersprochen worden; es konnte nämlich sowohl die Bewegungs- wie auch die Lagewahrnehmungeines Gelenkes aufgehoben sein, obgleich die Sensibilität der umgebenden Haut ziemlich intakt war.
3) Sehr oft werden die eigentlichen
Bewegungsempfindungen (im Sinne von Goldscheider) mit ganz andern von der
Haut herrührenden taktilen Empfindungen verwechselt.
Eine andere Erscheinung bei S., worauf in der Einleitung
hingewiesen wird, bestand in dem merkwürdigen Verhalten seiner Symptome
unter dem Einfluß der Ermüdung. Es wurde ihm nämlich alle
2—3 Tage gegönnt, einige Minuten hin und her zu spazieren. In bezug
auf den Ortssinn (welchen ich nach der bekannten visuellen Methode von
Volkmann prüfte) wurde dabei nie die geringste Änderung herbeigeführt;
die Schwellen blieben nach wie vor 1/3 bis 2 mal
(je nach dem Gliedabschnitt) größer als die des durchschnittlichen
Menschen. Aber auf den Raumsinn, welcher sonst bei S. ganz normal war,
zeigte sich die Wirkung des kleinen Spazierganges so mächtig, daß
nunmehr keine zwei simultanen Eindrücke irgendwo auf demselben Abschnitt
eines Beines als zwei erkannt werden konnten.
II. Anhang.
Formel zum Eliminieren des Beobachtungsfehlers.
Zuerst erinnere ich an die Formel für den Bravaisschen Korrelationskoeffizienten, welche sich vielleicht am bequemsten in der folgenden Weise darstellen läßt:
wo x (bzw. y) = der Abweichung irgendeines beobachteten Merkmals vom durchschnittlichen Werte aller Merkmale derselben Klasse, zu der x gehört (bzw. y); xy = dem Produkt von irgend einem x mit dem zusammengehörenden y; Sxy = der Summe solcher Produkte für alle in Betracht gezogenen Fälle; Sx2 (bzw. Sy2) = der Summe der Quadrate für alle Werte von x (bzw. y); und r = dem verlangten Korrelationskoeffizienten zwischen den Klassen x und y.
Um nun den Beobachtungsfehler zu eliminieren4), muß man mindestens zwei voneinander unabhängige Beobachtungsserien für jede der beiden wahren Serien x und y besitzen. Dann benutzt man folgende Gleichung:
In unserem Falle läßt sich die wahre Serie
x
durch die durchschnittlichen Lokalisationen von unendlich vielen Beobachtern
bei jeder der betreffenden Entfernungen der Reize vom Ellenbogen darstellen;
dafür bekommt man leicht die erforderlichen zwei Beobachtungsserien,
indem man die vorhandenen Beobachter in zwei beliebigen Gruppen verteilt;
dann liefert jede Gruppe offenbar eine unabhängige Beobachtungsserie
für dieselbe wahre Serie x. Die wahre Serie y wird hier
durch die wirklichen Entfernungen der Reize vom Ellbogen repräsentiert,
wofür man beliebig viele Beobachtungsserien anstellen kann; aber in
solchen bloß physikalischen Messungen sind die Beobachtungsfehler
im allgemeinen zu gering, um den Korrelationskoeffizienten merklich herabzusetzen,
und deshalb dürfen sie wohl in der Praxis vernachlässigt werden
(was bei den meisten psychologischen Messungen gar nicht der Fall ist).
III. Anhang.
Korrelation zwischen Ordnungsserien.
Um die Korrelation zwischen zwei Serien von fortlaufenden Ordnungszahlen in der einfachsten Weise zu berechnen, habe ich folgende Formel benutzt5);
|
|
|
|||
Entwicklung des Tastsinnes nach Urteil des Direktors |
konstanten Lokalisationsfehler |
variabeln Lokalisationsfehler |
a und b a und c | ||
|
1 | 1 | l | 0 | 0 |
|
2 | 2 | 4 | 0 | 2 |
|
3 | 3 | 2 | 0 | l |
|
4 | 4 | 5 | 0 | 1 |
|
5 | 5 | 3 | 0 | 2 |
D = 0 | D = 6 |
5) Sie ist von mir ausführlicher
im American Journal of Psychology, S. 86—88 beschrieben worden.
Danach ist Rab = 1 – 0 ,
Um nun diesen Koeffizienten R in den gewöhnlicheren r
zu überführen, hat man die Beziehung ;
dadurch ändern sich obige Werte von 0,25 bzw. 0,15 nunmehr zu den
Werten 0,39 bzw. 0,29. Diese Beziehung habe ich an einhundertundelf von
mir nach beiden Weisen ausgerechneten psychologischen Korrelationen bestätigen
können, mit einer durchschnittlichen Diskrepanz, die weniger als ein
Drittel der durchschnittlichen wahrscheinlichen Abweichung betrug. (Durch
diese Konstanz der Beziehung zwischen zwei auf verschiedenen Potenzen der
individuellen Differenzen beruhenden Koeffizienten wird bewiesen, daß
solche psychologische Korrelationen sich einer einzigen Gestalt nähern,
deshalb dürfen sie in einer für die meisten Zwecke genügenden
Weise durch einen einzigen Koeffizienten dargestellt werden.)
Vita.
Ich, Charles Edward Spearman, wurde am 10. September 1863 zu London geboren, und dann in dem Bekenntnis der englischen Kirche erzogen. Ich besuchte im Jahre 1873 eine Bürgerschule in Leamington, und im Jahre 1875 das Gymnasium daselbst. Im Jahre 1882 verließ ich das Gymnasium mit einem Zeugnis, wodurch ich für die Zulassung zur Universität Oxford oder Cambridge qualifiziert und von der Obliegenheit der dort im ersten Jahre üblichen Prüfungen enthoben wurde. Im Jahre 1883 wurde ich zum Offizier ernannt und nahm im Jahre 1898 meinen Abschied. Vom Oktober 1899 bis Februar 1900 studierte ich an der Universität Leipzig, wurde dann zum Generalstab der englischen Armee berufen und kehrte im Dezember 1902 nach der Universität Leipzig zurück, wo ich seither medizinische und philosophische Studien betrieben habe. Allen meinen hochverehrten Lehrern danke ich herzlich auch an dieser Stelle.
Leipzig, im Juli 1905.