ZUR ERINNERUNG

AN

GUSTAV THEODOR FECHNER.

WORTE GESPROCHEN AN SEINEM SARGE

AM 21. NOVEMBER 1887

VON

W. WUNDT.

LEIPZIG

DRUCK VON BREITKOPF & HÄRTEL.

1887.



    Verehrte Leidtragende!

    Der Freund, der aus unserer Mitte geschieden ist, hatte dem öffentlichen Beruf des akademischen Lehrers schon seit manchem Jahre entsagt. Dem beschaulichen Wirken des Forschers und Denkers waren stets seine vorwaltenden Neigungen zugewandt; ihm hat er in ungetrübter Ruhe den Abend seines Lebens geweiht. Gar manche unserer jüngeren Kollegen haben ihn wohl nicht mehr persönlich kennen gelernt. Wer ihn aufsuchte in seiner schmucklosen kleinen Studierstube, nur umgeben von den wenigen Hilfsmitteln, deren er zur Arbeit bedurfte, dem trat in ihm noch einmal das Bild eines jener schlichten Gelehrten früherer Tage entgegen, die der Reichtum ihres inneren Lebens der äußeren Bedürfnisse vergessen ließ. Und doch, wo irgend in der Ferne unserer Universität Leipzig und ihrer Bedeutung für die Wissenschaft gedacht wurde, da war es der Name dieses still unter uns lebenden Mannes, den man als einen der leuchtendsten Sterne unseres Ruhmes erwähnte. So ziemt es sich denn wohl, dass auch die Universität und die Fakultät, der er angehörte, heute an seinem Sarge ihm ein Wort dankbarer Erinnerung widmen.

    Unser Freund gehörte nicht zu den Gelehrten, deren Stärke die Beschränkung ist. Sein Interesse war vielen Gebieten des Wissens zugewandt, und daneben erfüllten ihn von Jugend auf künstlerische Neigungen. Aber nie hat diese Vielseitigkeit der Gründlichkeit geschadet, mit der er sich in einzelne Probleme zu vertiefen wußte; und als die abnehmende Kraft seiner Augen in den letzten Jahren an die Schranken ihn mahnte, die allem menschlichen Können gesetzt sind, da verzichtete er darauf, manches ihm früher vertraute Gebiet weiter zu verfolgen, um sich mit um so größerer Ausdauer dem Aufbau derjenigen Wissenschaft widmen zu können, der er nicht bloß den Namen sondern das Dasein gegeben hat, der Psychophysik. Doch ehe er dies Ziel erreicht, hatte er schon einen langen Weg erfolgreicher Arbeit zurückgelegt.

    Als Physiker hat er seine Laufbahn begonnen. Die Notwendigkeit, sich eine äußere Existenz durch literarischen Erwerb zu schaffen, veranlaßte ihn, den damaligen Zustand der exakten Erfahrungswissenschaften in umfassenden Werken darzustellen. So entstanden, er hatte kaum das Jünglingsalter überschritten, noch in den zwanziger Jahren des Jahrhunderts, seine Repertorien der Physik und der Chemie, seine Bearbeitungen von Biot's Experimentalphysik, von Thénard's Chemie. Aber schon in diesen Arbeiten verrät sich überall der Geist des selbständigen Forschers. Nicht Referate im Stil der meisten heutigen Jahresberichte sind seine Repertorien. Sie sind Werke, die ein einheitliches, überall von eigenen Überzeugungen getragenes Bild des Zustandes der exakten Wissenschaften jener Tage entwerfen, für den Historiker der Wissenschaft von bleibendem Werte. Ebenso erwuchs ihm die Übersetzung des Biot'schen Lehrbuchs unter den Händen zur eigenen Arbeit, die namentlich in dem den Galvanismus behandelnden Teile zu einem selbständigen Werke wurde, einem Werke, das bis in die Mitte unseres Jahrhunderts als die klarste und lichtvollste Zusammenfassung der Erscheinungen dieses Gebietes mit Recht anerkannt war.

    Auch durch eigene experimentelle Arbeit hat er sich in diesen Jahren an der Entwicklung der Elektrizitätslehre beteiligt. In seinen "Maßbestimmungen über die galvanische Kette" hat er jenes Ohm'sche Gesetz über die Abhängigkeit der Stärke des galvanischen Stromes, welches bis heute die wichtigste Grundlage dieses Erscheinungsgebietes geblieben ist, und welches von seinem Urheber nur teilweise bewiesen worden war, als der Erste in seinem vollen Umfange experimentell bestätigt. Kein Physiker würde heute mehr mit den unvollkommenen Hilfsmitteln, auf die unser Freund damals angewiesen war, ein exaktes Resultat zu gewinnen hoffen. Aber was ihm an Sicherheit der Hilfsmittel abging, ersetzte er durch Sorgfalt der Methode. Darum könnte man heute noch jedem, der nach einem mustergültigen Beispiel logischer Methodik auf dem Gebiet der experimentellen Naturwissenschaft sucht, getrost Fechner's "Maßbestimmungen über die galvanische Kette" in die Hand geben.

    Ihn aber zog es bald zu Beobachtungen, die seiner früh erwachten Neigung entgegenkamen, Außen- und Innenwelt zu einander in Beziehung zu setzen. Jene subjektiven Licht- und Farbenerscheinungen, wie sie kurz vorher Goethe gefesselt hatten, fanden in ihm einen unermüdlichen Beobachter. Es gelang ihm, wie keinem vor ihm, das wechselvolle Spiel der Nachbild- und Kontrasterscheinungen in seiner Gesetzmäßigkeit zu belauschen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind für uns noch heute maßgebend geblieben. Doch für ihn sollten diese Arbeiten, in denen sich seine seltene Gabe der Vereinigung subjektiver Wahrnehmung und objektiver Beobachtung so glänzend bewährte, zum tragischen Verhängnisse werden. Jahre lang nötigte ihn das Augenleiden, das er sich bei denselben zugezogen, und das ihn ganz nie wieder verlassen hat, sein Leben im Dunkeln zuzubringen. Er, zu dessen liebsten Überzeugungen es gehörte, dass Licht und Farbe und Wärme nicht bloß ein äußerer Schein seien, den ein Gewirre seelenloser, dunkler und kalter Atome erst in uns entstehen lasse, sondern dass alle jene Eigenschaften, um derenwillen wir uns der uns umgebenden Welt erfreuen, zu dem eigensten Wesen der Dinge selber gehören, - er war nun gezwungen, dieser von ihm so innig empfundenen Welt des Lichts zu entsagen. Aber er hatte auf manches verzichten gelernt; heiteren Mutes wußte er auch dieses Geschick zu tragen.

    Um so mehr kehrte sich nun sein Blick nach innen. In diesen dunkeln Tagen sind die Gedanken gereift, die er in seinen philosophischen Schriften niederlegte.

    Er hat diese Schriften für einen größeren Kreis von Lesern bestimmt; die Gedanken, in denen er selbst Trost gegen ein schweres Geschick gefunden, und in denen sich ihm Sinn und Bedeutung der Welt und des eigenen Daseins erschlossen hatten, sie sollten jedem zugänglich sein, der ähnlichen Trostes bedürfe, oder den ähnliche Zweifel bedrückten. Bei manchen seiner kleineren Schriften ist ihm dies auch sicherlich wohl gelungen. Vieles in ihnen ist von unvergänglicher Schönheit, poesievoll und gedankenreich, vollendet in Form und Inhalt. Aber unser Freund war doch zu reich und zu tief, um jemals ein eigentlich populärer Schriftsteller zu werden. Um so mehr fesselte er eine kleine, auserlesene Gemeinde. Eine Erfahrung, die dies bestätigt, bleibt mir unvergeßlich. Als mir einst von befreundeter Hand nach dem Tode eines unserer größten und tiefsinnigsten mathematischen Denker, Bernhard Riemann's, dessen philosophischer Nachlaß zur Sichtung übergeben wurde, war ich überrascht, überall Gedanken zu finden, denen ich schon einmal begegnet, zuweilen Sätze, die ich schon einmal gelesen zu haben glaubte. Und siehe da, bei näherer Nachforschung ergab es sich, dass diese Sätze wörtlich Fechner's Zend - Avesta entnommen waren.

    Seine Philosophie war freilich kein fest geschlossenes System. Dem widerstrebte schon die eigentümliche Stellung, welche er der Philosophie in seiner Gedankenwelt anwies. Sie war ihm ein Erzeugnis nicht sowohl des Verstandes als der Phantasie. Denn er meinte, gerade in die Lücken, welche für die Verstandeserkenntnis in unserer Weltbetrachtung bestehen bleiben, solle das philosophische Denken ergänzend eintreten. Seine Philosophie war daher eine Philosophie des Gemüts, dazu bestimmt, das durch die einseitige Verstandestätigkeit gestörte Gleichgewicht menschlicher Geisteskräfte wiederherzustellen.

    Die Ergebnisse der mechanisch-physikalischen Weltauffassung erkannte er unumwunden an. Der Rechtfertigung der Atomtheorie, unbedachten philosophischen Angriffen gegenüber, hat er eine eigene, höchst verdienstvolle Schrift gewidmet, voll neuer und bedeutsamer Gesichtspunkte. Nicht minder hat er sich in einer anderen Schrift der Theorie der Entwicklung der organischen Lebensformen rückhaltlos angeschlossen, wenn er auch nicht allen Hilfshypothesen dieser Theorie zustimmen mochte. Aber die naturwissenschaftliche Art des Erkennens galt ihm überall nur als die eine Seite der Wahrheit, die der Ergänzung durch eine phantasievolle Weltbetrachtung bedürfe, welche unser eigenes inneres Sein mit der Welt außer uns und mit dem höchsten Weltgrunde über uns in eine lebendige Wechselbeziehung bringe. Darum fließen für ihn philosophische und religiöse Weltanschauung zusammen. Das religiöse Gemütsbedürfnis ist der Quell, die Phantasie, die diesem Bedürfnis neben und in der Welt der Verstandeserkenntnis Raum schaffen muß, ist das Organ seines philosophischen Denkens.

    Wohl war sich unser Freund bewußt, dass auf diesem Wege mannigfache Weltanschauungen möglich seien, deren jede vielleicht das nämliche subjektive Recht für sich in Anspruch nehmen könne. Aber er liebte es, darauf hinzuweisen, dass ja auch die Verstandeserkenntnis, sobald sie über die unmittelbare Erfahrung hinausgehe, mit ihren mannigfachen Hilfsvoraussetzungen nur eine relative und bedingte Gewißheit erreichen könne. Er hat einmal, um dies recht augenfällig zu zeigen, in einer anonym erschienenen Schrift die moderne Entwicklungs- und Vervollkommnungs-Hypothese umgekehrt, indem er mit vielem Scharfsinn eine große Zahl von Gründen für eine Theorie des allmählichen Niedergangs und der Auflösung der organischen Arten beibrachte.

    Überhaupt war es sein Grundsatz, zunächst jeder Ansicht, mochte sie nun neu oder alt sein, das Recht des Zweifels entgegenzuhalten. Darum liebte er es wohl, manche seiner eigenen Ideen, die ihm noch zweifelhaft sein mochten, in eine scherzhafte Form zu kleiden, wobei es dann dem Leser überlassen blieb, ernsthaft zu deuten, was ihm zusagte. Diese Eigenschaft ist es, die in den meisten seiner Mises-Schriften so originell uns entgegentritt. Sind sie darin echt humoristisch, dass ein ernster Sinn sich verbirgt hinter dem scherzhaften Spiel der Gedanken, so ist es zugleich der philosophische Gehalt der Gedanken, der hier dem Humor sein eigentümliches Gepräge verleiht.

    Es sind dies die nämlichen Eigenschaften, die der Unterhaltung mit ihm einen besonderen Reiz verliehen. Er liebte und übte die Kunst des Gesprächs wie selten Einer. Man konnte ihm gegenüber nicht leicht eine Behauptung wagen, ohne auf Widerspruch gefaßt zu sein. Das scheinbar Selbstverständliche reizte ihn unter Umständen am meisten zu solchem. Doch mit dieser unverwüstlichen Dialektik verband er das regste sachliche Interesse und ein aufrichtiges persönliches Wohlwollen. Vielleicht hat Niemand in seinem Leben mehr gestritten als er, und gewiß hat Niemand weniger Feinde gehabt als er. Seine unwandelbare Liebenswürdigkeit ließ keine Verstimmung aufkommen.

    Das Streben, welches seine Philosophie beseelte, der Phantasie in der Deutung der Welt den ihr gebührenden Raum zu gönnen, und überall Außen- und Innenwelt zu einander in Beziehung zu setzen - dieses doppelte Streben mußte ihn fast mit innerer Notwendigkeit zwei Gebieten zuführen, welche in der letzten Zeit seines Lebens beinahe ausschließlich seine Tätigkeit in Anspruch nahmen: der Betrachtung der künstlerischen Phantasietätigkeit, der Ästhetik, und der Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen den äußeren Einwirkungen der Sinne und dem menschlichen Bewußtsein, der Psychophysik.

    Auf beiden Gebieten schlug er neue Wege ein, indem er dort die rein ästhetische, hier die rein psychologische Betrachtung mit den exakten Gesichtspunkten in Verbindung brachte, wie sie ihm seine physikalische Bildung und Denkweise zur Verfügung stellte. So hat er dort einer experimentellen Elementarästhetik, hier durch seine Psychophysik der heutigen experimentellen Psychologie die Bahn gebrochen.

    Dass die experimentelle Ästhetik, oder, wie er sie scherzend im Gegensatze zur spekulativen Ästhetik zu nennen liebte, die Ästhetik von unten auf, nicht die ganze Ästhetik sei, und dass sie nicht das letzte abschließende Wort in ästhetischen Fragen zu sagen habe, darüber ist unser Freund selbst nicht im Zweifel gewesen. Das aber wird als ein richtig erfaßter und mit Erfolg zuerst von ihm durchgeführter Gedanke stehen bleiben, dass die elementarsten Formen des ästhetischen Gefallens in Bezug auf die Bedingungen ihrer Entstehung einer experimentellen Untersuchung zugänglich und bedürftig sind.

    Am dauerndsten hat ihn die Psychophysik gefesselt, und wie sehr auch der Kampf über einzelne Fragen noch schweben mag, unbestritten gelten hier seine Arbeiten als gewaltige Marksteine auf dem Wege, welcher Natur- und Geisteswissenschaften zu verbinden bestimmt ist. Bescheiden hat er selbst seinen älteren Freund Ernst Heinrich Weber den Vater der Psychophysik genannt. Aber so wahr es ist, dass die ersten Beobachtungsgrundlagen zu dem neuen Gebiete von Weber gelegt sind, so zweifellos ist es auch, dass die Tragweite dieser Untersuchungen erst von Fechner erkannt wurde, und dass er erst die exakten Methoden geschaffen hat, die für einen weiteren Fortschritt unerläßlich waren. Mit dieser Tat hat er mehr noch geleistet, als er selbst Wort haben wollte. Indem er zeigte, dass auf die Tatsachen des Bewußtseins, insofern sie mit äußeren Einwirkungen in unmittelbarer Wechselbeziehung stehen, in ähnlicher Weise exakte Methoden sich anwenden lassen, wie auf die äußeren Naturvorgänge selber, ist er der Begründer der experimentellen Psychologie geworden. Die Psychophysik, die er anbaute, war nur die erste Eroberung auf einem Felde, dessen weitere Besitznahme erhebliche Schwierigkeiten nicht mehr bieten konnte, nachdem einmal dieser Anfang gemacht war.

    Es ist ihm beschieden gewesen, seine psychophysischen Grundanschauungen im Laufe des letztvergangenen Jahres noch einmal in einer Abhandlung niederzulegen.1) Und diese Arbeit des 86jährigen ist; wie ich glaube, die klarste und vollendetste Darstellung des Problems, die er überhaupt in den beinahe 40 Jahren gegeben hat, während deren er sich mit demselben beschäftigte. So ist ihm das seltene Glück geworden, bis an die Grenze seiner Tage und weit über die Grenze eines gewöhnlichen Menschenlebens hinaus, unablässig denkend und arbeitend, die volle Klarheit des Geistes sich zu bewahren. Er ist zuletzt ermüdet von der Arbeit eingeschlafen, nicht anders, als da er an vorangegangenen Tagen sich zu kurzer Ruhe niederlegte.

l) Über die psychischen Maßprinzipien und das Weber'sche Gesetz. Philosophische Studien IV, S. 161-230.
 
 
    Es war einer seiner Lieblingsgedanken, dass der Mensch, wenn er dahingeht, nicht in unzugänglicher Ferne, getrennt von Allem, was ihm hier lieb und teuer war, ein neues Leben anfange, sondern dass er mit den Seinigen vereint bleibe und in ihnen zu leben fortfahre. Darum hat er in seinem "Büchlein vom Leben nach dem Tode" den selig gepriesen, der einen Schatz von Achtung, Liebe und Bewunderung hinter sich gelassen. Was er für's diesseitige Leben verloren, gewinne er um so reicher mit dem Tode wieder, indem er ein zusammenfassendes Bewußtsein für alles das erlange, was die Nachgelassenen von ihm denken.

    Wie es auch sein mag mit diesen Vorstellungen, in denen unser geschiedener Freund sich die Rätsel des Daseins zu deuten suchte, nicht bloß einen Schatz von Achtung, Liebe und Bewunderung, sondern auch einen Schatz von Ideen hat er zurückgelassen, in denen er mit uns fortlebt.

    Vor uns steht heute noch einmal das Bild seiner ganzen Persönlichkeit: des unermüdlichen Arbeiters, des exakten Beobachters, des tief religiösen und phantasievollen Denkers, daneben des witzigen Humoristen, des allezeit schlagfertigen Dialektikers, - alle diese Seiten harmonisch vereinigt in einem Menschen von edler Bescheidenheit, von echtem Wohlwollen, erfüllt von allen geistigen Gütern der modernen Welt, und doch an äußerer Bedürfnislosigkeit nur einem antiken Philosophen vergleichbar. Wahrlich, wir werden Seinesgleichen nicht wiedersehen. Aber sein Andenken und seine Werke werden unter uns fortdauern. Friede sei mit ihm!