Pressemitteilung 2020/264 vom

Das Jahr des "Social Distancing", in dem der Reiseverkehr unterbrochen wurde, während sich virtuelle Formen des Zusammenkommens etablieren, hat das Vertrauen in sicher geglaubte Praktiken und Infrastrukturen von Wanderung und Transport grundlegend erschüttert. Dadurch wurden auch die ungleichen Folgen der Mobilitätsunterbrechungen in verschiedenen Weltregionen und sozialen Gruppen deutlich sichtbar. Für Mobilitätsforscher erlaubt das einen neuen Blick auf Formen und Grenzen von Bewegung und Verkehr für unterschiedliche Gruppen von Menschen. Die fünfte Jahrestagung des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1199 „Verräumlichungsprozesse unter Globalisierungsbedingungen“ der Universität Leipzig vom 7. bis 10. Oktober adressierte die Herausforderungen, die sich daraus für die sozial- und geisteswissenschaftliche Erforschung von Mobilität ergeben.

Auf der digitalen Konferenz widmeten sich Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich, Finnland, Großbritannien, den USA und Kanada der Frage, wie durch verschiedene Formen und Praktiken von Mobilität neue Räume entstehen und von welchen Akteuren sie geprägt werden. Für Dr. Steffi Marung, die die Konferenz gemeinsam mit Prof. Matthias Middell konzipiert hat, macht dieses Jahr besonders deutlich, dass Globalisierung keine abstrakte Macht ist. „Globalisierungsprozesse sind das Resultat der vielen Dinge, die Menschen, Firmen oder Organisationen tun, um sich in einer eng verflochtenen Welt zu behaupten“, sagt sie. Prof. Matthias Middell ergänzt: „Plötzlich erleben wir, dass vom Ende der Globalisierung gesprochen wird. Doch das geht am Problem vorbei.“ Für Marung und Middell zeigt sich stattdessen, dass die Untersuchung von Mobilität im Kontext historischer und sozialwissenschaftlichen Globalisierungsstudien notwendiger denn je ist. „Hier geht es eben nicht nur um Verflechtungen und Mobilität an sich, sondern darum, die Ungleichheiten und Brüche in diesen Verbindungen zu verstehen und zu erforschen, wer profitiert und wer nicht und welche Globalisierungsprojekte sich durchsetzen“, sagt Marung.

Die Jahrestagung reagierte auch auf eine interdisziplinäre Diskussion, die den Zusammenhang von Mobilität und Immobilität in den Blick nimmt und einen „mobility bias“ der Migrationsforschung problematisiert, die Zirkulation und Bewegung betont, aber die Tatsache vernachlässigt, dass viele Menschen eben nicht zwischen den Weltregionen wandern, sondern relativ immobil bleiben. Damit wird der Eindruck einer ganzen Welt „in Bewegung“ erzeugt, der überdeckt, dass viele Menschen zur Migration gezwungen sind oder sich veranlasst sehen, aber die ganz überwiegende Mehrheit der Menschheit relativ stationär bliebt. Erst dadurch entsteht die Notwendigkeit von Mobilitätsregimes, die zwischen Wanderung und stationärer Lebensweise vermitteln, Bewegung kontrollieren und neue Praktiken der Bewegung hervorbringen. Dass sie mehr und mehr transregional verflochten sind, gehört zu den besonderen Herausforderungen für die interdisziplinäre Forschung. Die englischsprachige Online-Konferenz eröffnete ein Vortrag von Tim Cresswell (Universität Edinburgh) über "Valuing Mobility in a Post COVID-19 World“, und es schlossen sich zahlreiche Rundtischgespräche, kommentierte Panels und offene Arbeitsformate an.

Der Sonderforschungsbereich (SFB) 1199 „Verräumlichungsprozesse unter Globalisierungsbedingungen“ an der Universität Leipzig wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 2016 gefördert. Etwa 50 Wissenschaftler erforschen in 17 Teilprojekten die Herausbildung und den Wandel von Raumordnungen in einer zunehmend verflochtenen Welt und bieten dabei neue Perspektiven auf Globalisierungsprozesse in Vergangenheit und Gegenwart. Der SFB ist Teil des Forschungszentrums Globale Dynamiken (ReCentGlobe) an der Universität Leipzig, wo er mit weiteren vielfältigen Forschungsfeldern und Themen im Bereich der Leipziger Globalisierungsforschung verknüpft ist.