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Der Sozialpsychologe Oliver Decker, der gerade das am ReCentGlobe angebundene Else-Frenkel-Brunswik-Institut zur Untersuchung antidemokratischer Einstellungen gegründet hat, stellt die zehnte Auflage der renommierten Leipziger Autoritarismus-Studien (LAS) vor. Im Interview spricht er darüber, welche Wertvorstellungen antidemokratische Milieus verbinden, warum auch die Querdenken-Bewegung autoritäre Merkmale aufweist und was die demokratische Einstellung festigen kann.

Sie führen die Leipziger Autoritarismus-Studien seit 2002 durch, in diesem Jahr erscheint sie zum zehnten Mal. Welchen Trend konnten Sie in dieser langen Zeit beobachten?

Teil der zehnten Auflage unserer Studie ist die Auswertung eines Langzeitverlaufs der Ergebnisse. Dabei zeichnet sich ab, dass wir den Fokus unserer Leipziger Autoritarismus-Studien (LAS) über die Jahre verlagert haben und zwar weg vom Rechtsextremismus hin zu einer Untersuchung antimoderner Milieus, die nicht zwingend manifest rechtsextrem sind, aber immer antidemokratisch und Codes der rechtsextremen Ideologie teilen. Bereits in unserer LAS 2016 stellten wir eine klare Polarisierung der Gesellschaft und eine Radikalisierung dieser antidemokratischen, rechtsautoritären Milieus fest. Und jetzt sehen wir, dass in diesen Milieus Bündnisse entstehen über geteilte Motive, die wie eine Brücke wirken. Dazu gehören Antifeminismus, ein israelbezogener Antisemitismus und der Glaube an Verschwörungsmythen. Diese geteilte Wertvorstellung finden wir sowohl bei religiösen Fundamentalisten als auch bei Faschisten und teilweise auch bei denen, die gegen Corona-Maßnahmen demonstrieren. Mit dem Begriff des Rechtsextremismus allein kann die autoritäre Dynamik in all diesen Gruppierungen nicht erfasst werden.

 

Die Menschen, die gegen die Corona-Maßnahmen protestieren, begründen das doch damit, dass die Maßnahmen die individuelle Freiheit gefährden. Tragen sie trotzdem autoritäre Züge?

Absolut. Lange Zeit hat man das autoritäre Syndrom nach dem amerikanischen Psychologieprofessor Bob Altemeyer an drei Elementen festgemacht:  Aggression, Unterwürfigkeit und Konventionalismus. Das ist eine starke Verkürzung des ursprünglichen Konzepts von Theodor Adorno, Else Frenkel-Brunswik und anderen, das aus neun Elementen bestand. Dazu gehörten auch Aberglaube, Verschwörungsglaube und Esoterik.

 

Wie haben Sie diese drei Faktoren in Ihre aktuelle Untersuchung aufgenommen?

Wir haben Fragen zu Aberglaube, Verschwörungen und einer Corona-bezogenen Esoterik für die aktuelle Studie in die Fragebögen mit aufgenommen. Dazu gehören Aussagen wie „An Wahrsagerei ist auch etwas dran“, „Krankheiten sind Prüfungen der Natur, um wieder zu unserem Ursprung zurückzukehren“ oder „Die wahren Ursachen der Corona-Pandemie werden nie ans Licht der Öffentlichkeit kommen“. Unsere Befragung hat gezeigt, dass der Glaube an Verschwörungsmythen in der Bevölkerung gestiegen ist. Wir würden außerdem sagen, dass der Aberglaube als eine Art Einstiegsdroge für ein antimodernes Weltbild wirken kann. Aberglaube ist die noch nicht politisierte Verschwörungsmentalität. Daher würden wir das Modell von Altemeyer um die Elemente des Aberglaubens und der Verschwörungsmentalität ergänzen.

 

Die Querdenken-Demonstration in Leipzig am 7. November hat nicht nur massive Kritik auf sich gezogen, weil dort durchgängig die Regeln des Infektionsschutzes missachtet wurden, sondern auch, weil man hier offensichtlich Neonazis und rechte Hooligans geduldet hat. Ein Querdenken-Redner sagte sogar, er freue sich über die Beteiligung der NPD, schließlich habe man diese Menschen so zurück in die Mitte der Gesellschaft geholt. Findet hier eine massive Verharmlosung statt oder ist die Bewegung anschlussfähig für extrem rechtes Gedankengut?

Die Formulierung des Redners ist von abgründiger Wahrheit. Im Jahr 2006 nach der dritten Erhebung im Rahmen der LAS führten wir den Mitte-Begriff in die Titel der Ergebnisberichte ein. Mit ihm wollten wir auf den Punkt bringen, dass rechtsextreme Einstellungen schon lange in der Mitte der Gesellschaft vorhanden waren, immerhin, so zeigte es unsere Untersuchung damals, lebten mehr als 60% der Menschen in politischen Milieus, in denen die Abwertung anderer so selbstverständlich zum Sound des Alltags gehörte, wie der Wunsch nach Autorität. Insofern hat dieser Querdenken-Redner also Recht, aber doch deutlich anders, als er selbst meint. Die Ideologien der Ungleichwertigkeit waren nicht nur Themen der NPD, sondern immer auch der Mitte. Diese klare Grenze hat damals wie heute nicht existiert, vielmehr gab und gibt es eine handfeste Bedrohung der Demokratie aus der Mitte heraus – ob durch den Ethnozentrismus, durch den Nationalismus oder durch den Neo-Nazismus mit Antisemitismus sowie den Wunsch nach autoritärer Herrschaft und Revisionismus. Immerhin, dieser Aktivist bemerkt es selbst, er demonstriert mit bekennenden Neo-Nazis und Angehörigen rechtsextremer Parteien. Es stört ihn aber offensichtlich nicht – das hat er leider mit einer Vielzahl der Demonstrierenden gemeinsam. Nur: Was ist von einer Demonstration zu halten, bei der auf einer der Nebenbühnen eine Rednerin gleichzeitig den NS-Verbrecher Göring zustimmend zitiert und sich Hooligans und Rocker als Begleiter auf die Straße wünscht? Von einer Demonstration, bei der Menschen Schilder mit der Aufschrift „Ich bin ein Covid-Jud“ tragen? Derart abstoßender Antisemitismus, Opferverhöhnung, Gewaltbereitschaft und NS-Verharmlosung zwei Tage vor dem Gedenktag an die Novemberpogrome von 1938 in einer Demonstration von Leuten, die die Demokratie angeblich schützen wollen?

 

Die Studie beinhaltet auch ein Kapitel über die Partei Alternative für Deutschland. Letztes Mal schrieben Sie: „Nicht die gesamte AfD ist eine rechtsextreme Partei, aber die Entwicklung der letzten Jahre zeigt eine deutliche Tendenz“. Bleibt jetzt, wo der Verfassungsschutz einen stärkeren Blick auf die Partei hat, nur noch der harte, rechtsextreme Kern in der Partei? Wie sieht es 2020 aus?

Wir haben für die LAS 2020 die Erhebungen seit 2014 herangezogen, also seit dem Jahr, als wir das erste Mal bei der Parteipräferenz auch die AfD genannt haben. Und da sehen wir: Die AfD ist eine Partei, die vornehmlich von Menschen gewählt wird und der vornehmlich Menschen folgen, die rechtsextrem eingestellt sind. Nicht erst seit den vielen Häutungen der Partei, sondern unseren Umfragen nach schon seit Beginn des Bestehens der Partei. Die AfD-Anhänger:innen wählen die Partei nicht trotz, sondern wegen Björn Höcke.

 

Stellt die Querdenken-Bewegung für die AfD eine Möglichkeit dar, anzuknüpfen und ihre Basis zu verbreitern?

Das ist schwer zu sagen, aber wir sehen durchaus, dass Mitglieder der Partei und Personen aus ihrem Umfeld bei den Demonstrationen auftauchen und dort auch willkommen sind. Das war auch in Leipzig der Fall. Diese Bündnisbildung funktioniert also, ob sich das an den Wahlurnen mobilisieren lässt, muss man abwarten. Das Problem, das wir als Wissenschaftler:innen und Sozialforscher:innen hier in der Prognostik haben, ist, dass die Wähler:innen der AfD sich bei Befragungen nur sehr selten offenbaren. Daher würde ich sagen, dass wir das vorhandene Potenzial vielleicht auch unterschätzen. Genau das ist den Wahlforscher:innen in den USA bei den beiden letzten Wahlen ja auch auf die Füße gefallen. Von daher müssen wir wohl die nächsten Wahlen abwarten.

 

Sie sprechen in der Studie auch von „industrial citizenship“. Was bedeutet der Begriff und wie kann das Konzept gegen das autoritäre Syndrom wirken?

In langen Jahrhunderten politischer Kämpfe wurden die Bürgerrechte erstritten. Sie umfassen politische und soziale Schutzrechte und auch Partizipationsmöglichkeiten. Allerdings gelten diese erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auch an den Orten, an denen die meisten Menschen einen Großteil ihrer Lebenszeit verbringen: Diese „industrial citizenship“ beschreibt nämlich das Erlebnis, sich in seinem Umfeld, beispielsweise dem Arbeitsumfeld, einzubringen und partizipieren zu können. Wir wollten in diesem Jahr wissen, ob es einen Schutzeffekt für die Demokratie insgesamt durch die „industrial citizenship“ gibt. Und wir konnten zeigen, dass diejenigen, die eine Beteiligung an Entscheidungsprozessen erfahren, weniger Vorurteile haben und sich deutlicher zur Demokratie bekennen. Es ist sehr wichtig, mit den Spannungen, die sich aus demokratischen Aushandlungsprozessen ergeben, umzugehen zu lernen. Else Frenkel-Brunswik hat das als Ambiguitätstoleranz bezeichnet. Ich glaube, wenn man diese Erfahrung macht, lernt man sein Gegenüber auch dann zu schätzen, wenn er oder sie eine andere Einstellung vertritt.

 

Die Fragen stellte Pia Siemer.