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Ein Beitrag von Dario Gödecke
Unter den anhaltenden Corona-Bedingungen stellt die Einbindung der Praxisperspektive in die Forschungsprojekte eine große Herausforderung dar. Anders als ursprünglich geplant, hat das Team des Verbundprojekts „Theater im Off? - Publikumsforschung des Theaterangebots in Südniedersachsen als Basis für Strategien des Audience Development in peripheren Räumen“ (ThOff) zu diesem Zweck einen Beirat einberufen. In diesem Beitrag berichten wir, mit welchen Vor- und Nachteilen dies einhergeht und was dies für die Projektziele bedeutet.

Anwendungsorientierte Forschung! – Warum eigentlich?

Anwendungsorientierte Forschung hat den Anspruch, nicht nur akademisches Publikum mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Untersuchungen zu erreichen, sondern auch einen Mehrwert für die Praxis zu schaffen. Im Idealfall ergeben sich aus dem Praxisbezug (neue) Antworten auf gesellschaftlich, politisch, kulturell oder ökologisch relevante Fragestellungen. Um dies zu erreichen, eignet sich die Einbindung entsprechender Praxisakteur:innen in die Forschung, beispielsweise, indem Akteur:innen als Expert:innen interviewt oder mit ihrer Unterstützung quantitative Daten erhoben und ausgewertet werden. Um möglichst nah an den Lebenswirklichkeiten zu forschen, ist es darüber hinaus ebenfalls ratsam, die Praxisakteure:innen in den Forschungsprozess selbst einzubeziehen. Dabei kann das geplante wissenschaftliche Vorgehehen anhand der praxisrelevanten Fragestellungen und Problemlagen stets kritisch reflektiert und gegebenenfalls angepasst werden.

 

Der Plan „vor der Pandemie“

Im anwendungsorientierten Forschungsprojekt „Theater im Off?“ war vorgesehen, die entsprechenden Kulturakteur:innen in den Forschungsprozess einzubinden. Konkret sollten deren Informationsbedürfnisse hinsichtlich der Erforschung des Theaterpublikums identifiziert und nächste Arbeitsschritte abgesprochen werden. Damit verbunden war das Ziel des Projektes, die Potenziale des Audience Development zur Stärkung kultureller Teilhabe in ländlichen Räumen zu identifizieren.

Diese Potenziale sollten im Projektverlauf gemeinsam mit den lokalen Akteur:innen eruiert werden, um die Verwertungsperspektive zu sichern. Frühzeitig sollten die Leiter:innen professioneller als auch amateurbasierter Theater, Vorsitzende der Kulturvereine als auch Vertreter:innen aus der kommunalen Politik ländlicher Räume mittels einer Startveranstaltung eingebunden werden. Um den Mehrwert der Zusammenarbeit für die Praxisakteur:innen greifbar zu machen und damit die freiwillige Teilnahme am Forschungsprojekt zu sichern, wurden außerdem u.a. jährlich stattfindende Workshops mit den lokalen Akteur:innen geplant.

 

Startveranstaltung unter Coronabedingungen – ein schwieriges Unterfangen

Auch wenn die betrachtete Untersuchungsregion Südniedersachsen auf den ersten Blick nicht groß erscheint, ist sie, wie so viele andere ländliche Regionen Deutschlands, geprägt durch eine hohe Anzahl von vielfältigen Kulturanbieter:innen. So haben wir bei einer systematischen Telefon- und Internetrecherche (Web Scraping) allein über 60 Amateurtheater in Südniedersachsen identifiziert, von denen der Großteil in ländlichen Räumen beheimatet ist. Allerdings wurde dann schnell klar, dass die im Herbst/Winter 2020 angedachte Startveranstaltung aufgrund der coronabedingten Gefahrenlage nicht wie ursprünglich geplant durchgeführt werden konnte.

Akteur:innen aktiv einbinden und eine produktive Arbeitsatmosphäre schaffen? Das schien unter der Einhaltung der geltenden Abstands- und Hygieneregeln nicht realisierbar. Hinzu kam: Mit einer hohen Teilnahmebereitschaft wäre wohl kaum zu rechnen gewesen.

 

Der Plan B

Was also tun? Die Startveranstaltungen einfach in den digitalen Raum verschieben? Dies erschien uns, den beiden Teilforschungsprojekten, aus zweierlei Gründen nicht zielführend: Eine Vertrauensbasis lässt sich zwischen Teilnehmer:innen, die sich vermutlich wenig bis gar nicht kennen, digital nur schwer aufbauen. Auch schien uns die potenzielle Teilnehmer:innenanzahl zu groß, um digital tatsächlich untereinander ins Gespräch und „ins Arbeiten“ zu kommen. Die Möglichkeiten, im digitalen Raum Gruppeneinteilungen vorzunehmen oder nur eine Auswahl der Theaterakteur:innen zur Startveranstaltung einzuladen, ließ sich kaum mit den ursprünglichen Zielen vereinbaren. Erforderlich war also ein völlig neues Konzept.

 

Beratung und Empfehlungen durch einen Beirat

Wichtig war uns weiterhin, die Sichtweise der Praxis einzubinden. Wir entschieden uns dazu, einen Beirat einzuberufen, der das Projekt über die gesamte Laufzeit betreuen wird. Entscheidend war aus unserer Sicht, möglichst alle unterschiedlichen Praxisakteure:innen der Region abzubilden und zeitgleich die Anzahl der Personen so gering wie möglich zu halten, um ein produktives Arbeiten im digitalen Raum zu ermöglichen. Die Entscheidung fiel daher vorrangig auf Personen, welche sowohl einen hohen Praxisbezug aufweisen als auch gleichzeitig als Stellvertreter:in für Perspektiven und Interessen mehrerer Akteur:innen fungieren.

An der konstituierenden Online-Sitzung im November 2020 nahmen sieben Personen teil, die hauptsächlich auf übergeordneten Ebenen der Praxis tätig sind: Darunter waren Vertreter:innen des Amateurtheaterverbands Niedersachsen, des Landesverbands Freie Theater in Niedersachsen, des Deutschen Theaters Göttingen, eines kommunalen Verbands für regionale Kulturförderung in Südniedersachsen, des Landkreises Göttingen sowie Wissenschaftler:innen im Bereich  Kulturwissenschaft und ästhetische Bildung. In kleinen Arbeitsgruppen wurden die im Forschungsprojekt erarbeiteten Hypothesen präsentiert und durch die Beiratsmitglieder diskursiv in Frage gestellt oder weitergedacht. Wichtig war uns dabei, unsere zuvor erarbeiteten Annahmen zu den fünf Bereichen Akteure, Publikum, Audience Development, Kooperation und kulturelle Bildung ergebnissoffen hinterfragen zu lassen. Die Thesen und Sichtweisen der Beiratsmitglieder:innen führten zu sehr produktiven Diskussionen, sodass im Ergebnis ein Spielfeld abgesteckt wurde, welches zukünftig ein spannendes und praxisrelevantes Forschungsprojekt verspricht. So wurde die These bekräftigt, dass professionelle Theater und Amateurtheater in ländlichen Räumen mit jeweils anderen Audience Development Strategien arbeiten, um die Bevölkerung als Publikum zu erreichen und (aktiv ein) zu binden. Widerspruch gab es zu unserer These, dass sich das Theaterpublikum in Bezug auf Motivation, Bedürfnisse und sozioökonomische Charakteristika in urbanen Räumen von dem in eher ländlichen Räumen unterscheidet. Vielmehr vermuten die Beiratsmitglieder hier, dass sich das Publikum innerhalb der ländlichen Räume je nach Theaterangebot unterscheiden lässt und sich somit teilweise auch Parallelen zum Theaterpublikum der urbanen Räume identifizieren lassen.  Hieraus hat sich die neue These entwickelt, dass die Besucher:innen des öffentlich geförderten Theaterangebots in urbanen und ländlichen Räumen die gleichen Motivationen, Bedürfnisse und sozioökonomischen Charakteristika aufweisen.

 

Alles anders durch Corona?

Mit der Einberufung des Beirats ist es gelungen, die Sichtweisen der Praxis mit in die Überlegung zum Forschungsdesign und zum Erkenntnisinteresse einzubeziehen. Zudem agieren die Beiratsmitglieder:innen als Mutiplikator:innen für ihre Felder und tragen die im Projekt gewonnenen Erkenntnisse zu den Praxisakteur:innen weiter, sodass zumindest diese lose Verbindung zu den Akteur:innen vor Ort besteht. Die regelmäßige praxisnahe Abstimmung kann damit nicht in dem ursprünglich geplantem Maße erreicht werden.

Mit Blick auf die coronabedingte Krisensituation nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch und vor allem in der Theaterlandschaft, ist dies aber schlicht aus pragmatischen Gründen kein Nachteil mehr: Die momentane Realität von empirischer Forschung und Kultur verlangt veränderte Forschungsdesigns. Die Auswirkungen der Pandemie dauern an und werden uns noch lange begleiten. Ein Projekt wie ThOff, welches eine Publikumsbefragung als zentrales Forschungselement enthält, ist abhängig vom aktuellem Theaterangebot in ländlichen Räumen. Selbst wenn die öffentlich geförderte und freie Theaterszene im Laufe des Jahres erneut ein coronakonformes Theaterangebot schafft, wird dies auf Seiten der Amateurtheater vermutlich noch auf sich warten lassen. Zum einen, da hier finanzielle Aspekte und der kulturpolitische Auftrag weniger eine Rolle spielen und zum anderen, da aufgrund der ehrenamtlichen Tätigkeit der Spieler:innen ein längerer Probenvorlauf notwendig ist, der nicht zuletzt auch von den Herausforderungen der Abstands- und Hygieneregeln geprägt sein wird.

 

Nicht ganz!

Um die Ergebnisse des Forschungsprojektes für die Praxis anwendbar zu machen, ist am Ende der Projektlaufzeit nach wie vor eine Ideenwerkstatt geplant. Hierbei sollen die Forschungsergebnisse vorgestellt und daraus gemeinsam mit den Praxisakteur:innen Strategien des Audience Development sowie mögliche Kooperationspartnerschaften herausgearbeitet, reflektiert und diskutiert werden. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Forschungsergebnisse auch ohne direkte Einbindung der Akteur:innen vor Ort einen Mehrwert bzw. eine Relevanz für diese darstellen und ob sich hieraus Antworten auf die für sie relevanten Fragestellungen ergeben. Die bisherige Zusammenarbeit mit dem neugegründeten Beirat stimmt uns jedoch zuversichtlich, dass dieses Projektziel auch mit dem neuen Vorgehen erreicht werden kann. So wäre am Ende zwar vieles, aber eben doch nicht alles anders durch Corona.

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Gödecke, Dario, M.Sc., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik und Mittelstandsforschung an der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Forschungsinteressen liegen in der Kulturökonomik sowie in der Regionalökonomik.