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Hängen Parteipräferenz und Distanz zum nächsten ICE-Bahnhof zusammen? Oder der Zweitstimmenanteil und der niedrige Frauenanteil im Wahlkreis? Marius Dilling und Johannes Kiess des am ReCentGlobe angebundenen Else-Frenkel-Brunswik-Instituts haben analysiert, welchen Einfluss die Lebensverhältnisse in Sachsen auf das Wahlverhalten haben.

Die Herstellung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ ist ein wichtiges politisches Ziel, das insbesondere für das Ost-West-Verhältnis prägend ist, aber auch den Umgang mit wirtschaftlichem Strukturwandel mitbestimmt. Obgleich sich diese Zielsetzung vor allem auf die Bundesrepublik als Ganzes bezieht, handelt es sich um einen Grundsatz, der auch innerhalb eines Bundeslandes das Gerechtigkeitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger berührt. Ungleichheiten werden oft als ungerecht empfunden und können in politische Stimmungen Eingang finden und so das politische Gemeinwesen belasten. Für Mandatsträgerinnen und Mandatsträger sowie zivilgesellschaftliche Akteure auf kommunaler Ebene ist das lokale Umfeld im Alltag oft handlungsrelevanter als gesamtgesellschaftliche Themen. Denn demokratiestärkende Arbeit und politische Entscheidungen sind abhängig von strukturellen Bedingungen und politischen Stimmungen vor Ort.

Am Else-Frenkel-Brunswik-Institut für Demokratieforschung an der Universität Leipzig erforschen und analysieren wir u.a. Einstellungen zur Demokratie in Sachsen und beraten darauf aufbauend Zivilgesellschaft und Politik. In dieser Analyse, die wir als drittes Policy Paper des Else-Frenkel-Brunswik-Institut der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, konzentrieren wir uns auf mögliche sozial-, wirtschafts- und infrastrukturelle Einflussfaktoren auf Wahlentscheidungen in Sachsen. Dafür haben wir Daten des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) und des Statistischen Landesamts des Freistaates mit den Zweitstimmenergebnissen der sächsischen Landtagswahl von 2019 in Beziehung gesetzt.

Sozial-, wirtschafts- und infrastrukturelle Unterschiede in den Lebensverhältnissen in Sachsen werden durch verschiedene Indikatoren messbar. Ob eine Gemeinde prosperiert oder schrumpft, lässt sich zunächst am Saldo der Geburten und Sterbefälle und dem Saldo der Fortzugs- und Zuzugsrate ablesen. Als sozialstrukturelle Faktoren haben wir auch die Gemeindegröße, den Anteil der in der Gemeinde wohnhaften Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft sowie den Frauenanteil berücksichtigt. Aber auch ökonomische Faktoren, wie der Anteil der Erwerbslosen, der Schuldenstand und die Steuereinnahmekraft einer Gemeinde helfen dabei, mehr über die Lebensverhältnisse in einer Gemeinde zu erfahren. Schließlich gehören auch eine Reihe von Indikatoren für die Infrastruktur in eine Aufzählung möglicher Einflussfaktoren, darunter die Breitbandversorgung (Anteil der Haushalte mit mind. 50 MBit/s), die Erreichbarkeit von Autobahn und IC/EC/ICE-Bahnhof sowie die bevölkerungsgewichtete Luftliniendistanz zu wichtigen Stationen des täglichen Bedarfs als Index (Apotheke, Grundschule, Supermarkt und ÖPNV-Haltestelle).

Unser Interesse gilt hier nicht der Vorhersage von Wahlergebnissen auf Gemeinde- oder Landesebene, sondern den sozial-, wirtschafts- und infrastrukturellen Einflussfaktoren dieser Wahlentscheidungen selbst. Diese Faktoren beschreiben wir im vorliegenden Policy Paper und können auf dieser Basis folgende zentrale Ergebnisse herausstellen: 

  • Das Zweitstimmenergebnis auf Gemeindeebene aller im sächsischen Landtag vertretenen Parteien lässt sich zu einem relevanten Teil, aber bei weitem nicht vollständig durch das sozial-, wirtschafts- und infrastrukturelle Umfeld vor Ort erklären. Als besonders wichtige Prädiktoren erweisen sich die Arbeitslosenquote und das Geschlechterverhältnis in einer Gemeinde. Ob eine Gemeinde wächst oder schrumpft ist ebenfalls ein wichtiger Faktor für die Wahlentscheidung. Aber auch die Infrastruktur, die Entfernung zu Orten des täglichen Bedarfs und kommunale Gestaltungsmöglichkeiten sind hier zu nennen. 
     
  • Die Ergebnisse der AfD, der Grünen und der Linken lassen sich auf Basis unserer Daten und Modellierung am besten voraussagen.
     
  • Erfolgreich ist die AfD in Sachsen vor allem in Orten mit einer hohen Arbeitslosenquote, einem niedrigen Frauenanteil sowie langen Wegen zu Stationen des täglichen Bedarfs (Apotheke, Supermarkt, Grundschule, ÖPNV-Haltestelle). Da zum niedrigen Frauenanteil an diesen Orten auch ein Mehr an Fort- gegenüber Zuzügen und ein Mehr an Sterbefällen gegenüber Geburten treten, wird deutlich, dass die AfD in schrumpfenden Gemeinden erfolgreich ist.
     
  • In einem gänzlich anderen Kontext stehen die Wahlerfolge von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken: Sie sind vor allem in städtischen und infrastrukturell besser angebundenen Gemeinden mit wenig Menschen in Arbeitslosigkeit erfolgreich. Dieser Befund betrifft durchaus nicht nur die beiden größten Städte in Sachsen, Leipzig und Dresden, ist hier aber besonders sichtbar.
  • In ländlichen, kleineren Gemeinden – dort wo sich Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen eher schwertun – ist die CDU im Vergleich zur AfD vor allem in wachsenden Gemeinden mit hoher Fahrtzeit zum nächsten IC/EC/ICE-Bahnhof – also eher abseits von Leipzig und Dresden – erfolgreich.
     
  • Für alle Parteien gilt, dass – unabhängig von Sonderfällen – langfristige Entwicklungslinien des Ortes eine Rolle spielen, die in den herangezogenen Daten teilweise ihren Ausdruck finden. Dies verweist auf die Relevanz des politischen Klimas vor Ort und die Bedeutung, die lokale Politikerinnen und Politiker spielen. Hier kann die am Else-Frenkel-Brunswik-Institut durchgeführte, sozialräumlich orientierte Forschung einen wichtigen Beitrag leisten, Dynamiken und Kontinuitäten zu verstehen. 

Zusammenfassend zeigen unsere Berechnungen, dass unterschiedliche sozial-, wirtschafts- und infrastrukturelle Faktoren im Umfeld der Wahlentscheidung in Sachsen, teils stark mit den Zweitstimmenergebnissen der hier betrachteten Parteien zusammenhängen. Neben der Größe der Gemeinde erwiesen sich vor allem das Geschlechterverhältnis sowie Indikatoren ob eine Gemeinde wächst oder schrumpft und Indikatoren des Ausbaus der Infrastruktur vor Ort wie etwa das Vorhandensein eines Gymnasiums als auch die Distanz zu Stationen des täglichen Bedarfs als wichtige Merkmale. Die Anzahl der Arbeitslosen (im Jahr 2017) in einer Gemeinde geht ebenfalls eindeutig damit einher, welche Parteien einen hohen Zweitstimmenanteil bei der sächsischen Landtagswahl 2019 erreicht haben. Insbesondere der nachgezeichnete, deutliche Zusammenhang des AfD-Zweitstimmenanteils in den beobachteten Gemeinden mit dem Anteil der Arbeitslosen weist in dieselbe Richtung, wie auch die bisherige Forschung zeigt. Das heißt nicht, das Arbeitslose häufiger die AfD wählen. Vielmehr neigen in Regionen mit höherer Arbeitslosigkeit mehr Menschen dazu, diese Partei zu wählen.

Dass sowohl eine Überalterung (weniger Geburten als Sterbefälle), die Abwanderung (Saldo der Fort- und Zuzüge), als auch verschiedene Indikatoren von Strukturschwäche (Distanz zu Stationen des täglichen Bedarfs; kein Gymnasium) die AfD-Zweitstimmenabgabe in sächsischen Gemeinden erklärt, scheint die Modernisierungsverliererthese zu bestätigen. Dort wo sich Menschen (teilweise berechtigt) abgehängt fühlen, nehmen Frustration und Aggressionen zu. Das Vertrauen in die Institutionen des politischen Gemeinwesens sinkt, antidemokratische Akteure erfahren Zulauf. Gegen die Modernisierungsverliererthese spricht jedoch, dass die AfD zwar in schrumpfenden, nicht aber unbedingt ökonomisch abgehängten Gemeinden gewählt wird: Wir konnten keinen Zusammenhang zur Steuereinnahmekraft beobachten – im Sinne der Modernisierungsverliererthese wäre hier ein negativer Zusammenhang zu erwarten gewesen. Hierzu haben wir einen zwar kleinen, dennoch signifikanten negativen Zusammenhang mit dem Schuldenstand der Gemeinden beobachten können. Von größerer Relevanz erscheint also eher das (z.B. infrastrukturell bedingte) Erleben, abgehängt zu sein. Hier könnte eine Erhebung weiterer Indikatoren kommunaler Handlungsmöglichkeiten sowie deren subjektive Wahrnehmung durch die Bürgerinnen und Bürger weitere Erkenntnisse bringen.