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Die Kirchen haben auf die drängendsten Fragen der Gegenwart und die Suche nach Sinn in der Corona-Pandemie keine Antwort gefunden, meint Kirchenhistoriker Prof. Dr. Klaus Fitschen. Der ReCentGlobe-Forscher erklärt, woran das liegt und macht einen Vorschlag, wie das Weihnachtsfest in so einem Jahr dennoch mit Bedeutung gefüllt werden kann.

Religionen und dem, was traditionell Weltanschauungen genannt wird, wird zugeschrieben, dass sie Sinn stiften. Dies dient nicht nur der Selbstlegitimation von Religionen und Weltanschauungen, sondern auch der Legitimation aller, die sich in einer großen Bandbreite geisteswissenschaftlicher Fächer damit befassen. Einmal abgesehen davon, dass Religionen und Weltanschauungen auch viel Unsinn stiften können (, was dann apologetisch nicht diesen selbst, sondern Fehlformen von ihnen zugeschrieben wird): In vielen Belangen trifft die Zuschreibung der Sinnstiftung wohl auch zu, vor allem, wenn es um individuelle Lebenskrisen und Lebenswenden und um die Selbstvergewisserung und Selbstverständigung von Gruppen geht.

Bis in die Neuzeit, ja bis in die Gegenwart hinein haben Religionen und Weltanschauungen aber auch Deutungsmuster und Sinnstiftungen für große Katastrophen bereitzustellen versucht, zu denen auch Epidemien und Pandemien zählten. Im Christentum lief dies meist auf einen Ruf zur Buße und Besinnung hinaus, dem manche folgten, während andere Trost im Alkohol suchten – so ist es noch für die Choleraepidemie in Hamburg 1892 bezeugt. Zugleich aber stand die Geistlichkeit im Krisenfall zu ihrer seelsorgerlichen Verantwortung. Martin Luther hat dieses Problem 1527 in einer Schrift erörtert, als die Pest in Wittenberg wütete: Um Kranke und Sterbende soll man sich kümmern, allerdings gilt auch das Gebot der Vernunft, das mahnt, sich selbst und damit auch andere durch eine Ansteckung nicht in Gefahr zu bringen. Den Erkrankten galt der Rat, das Leiden geduldig zu ertragen, den Gesunden die Aufforderung, nicht kopflos zu fliehen und dadurch Verwandte und Nachbar:innen im Stich zu lassen.

Der Versuch, die Pandemie religiös zu deuten, konnte nur scheitern

Während Luther und ihm Nachfolgende in antiker Tradition noch böse Ausdünstungen für Seuchen verantwortlich machten, brachte das 19. Jahrhundert die ersten wegweisenden Erkenntnisse über die wahren Gründe mit sich. Damit wurden die traditionellen christlichen Motive fragwürdig, in den Vordergrund trat die praktische Hilfe. Freilich blieb in bestimmten christlichen Kreisen (, die in anderen Weltgegenden als Evangelikale und Pfingstler:innen durchaus die Mehrheit bilden) die traditionelle religiöse Begründung von Krankheiten hier und da lebendig: Gott bestraft durch AIDS und auch Corona die Sünden der Menschheit, und das ist vor allem die Homosexualität.

Auf diesem Hintergrund wird deutlich, warum die großen Kirchen in Deutschland für eine Deutung von Corona nicht vorbereitet waren. Versuche, die Pandemie religiös zu deuten, konnten nur scheitern. Ansätze, die darauf zielten, den dort so beliebten neuen Bußruf im Sinne einer Wohlstands- und Wachstumskritik auf neuer Grundlage zu dramatisieren, verhallten daher schon im internen Raum der Kirche. Die Themen Ökologie und Pandemie ließen sich eben nicht unter das Dach eines nur in Teilmilieus der Gesellschaft selbstverständlichen Appells zur Umkehr zu einem neuen Lebensstil zwingen, wenn man gerade auf der Jagd nach der letzten Rolle Toilettenpapier war. Der Sprecher des Dachverbandes der evangelischen Landeskirchen in Deutschland, der bayrische Bischof Heinrich-Bedform Strohm, sprach ganz in diesem diffusen Sinne von einer Umkehr und meinte damit eine „große Transformation“, die einen ganzen Kranz von Themen betreffen sollte, unter denen der Klimawandel nur eines war.

Die christliche Theologie hatte auf die drängendste Frage der Gegenwart schlichtweg keine Antwort, sie kreiste um sich selbst oder die ihr vertrauten abgeschliffenen Themen. Der Rückgriff auf biblische Texte, aber auch der Rückgriff auf die Schrift Martin Luthers zeigte deutlich, dass von ihr keine Sinnstiftung zu erwarten war, weder vom Katheder noch von der Kanzel. Selbst der evangelische Buß- und Bettag, traditionell der Anlass zur Reflexion der großen Herausforderungen der Zeit, schien keine Herausforderung darzustellen. Der angeblich sinnstiftenden Kirche war schlichtweg der Sinn abhandengekommen.

Theologie und Kirche in der Diaspora

Damit schien die „Systemrelevanz“ der Kirchen in Frage gestellt, aber auch die der christlichen Religion, jedenfalls im Blick auf den öffentlichen Raum. Der Verweis auf Diakonie und Caritas half hier nicht viel weiter, denn deren Aufgaben werden im Wesentlichen nicht von den Kirchen, sondern vom Staat finanziert. Ein anderer Ausweg war die Zurückweisung des Begriffs Systemrelevanz, der gar nicht zur religiösen Sphäre passe, und der Ruf nach einem intensivierten Nachdenken über die Rolle von Theologie und Kirche in einer Minderheitensituation (der „Diaspora“). Dieser Spur mochte in Kirche und Theologie freilich kaum jemand folgen, denn anzuerkennen, dass das Christentum in Deutschland zunehmend „Diaspora“ ist, fällt dort nach wie vor schwer.

Was also am Ende blieb, war der Ruf zur Vernunft in den eigenen Reihen und die Frage, wie und ob überhaupt noch Gottesdienste stattfinden und die Begleitung Kranker und Sterbender gewährleistet werden sollte. Tatsächlich waren es nicht wenige, die die Kirchen beschuldigten, dem Staat gegenüber zu willfährig zu sein. Dass freie Gemeinden mit sorglos durchgeführten Gottesdiensten auffielen und örtlich die Infektionszahlen in die Höhe trieben, drohte durch eine undifferenzierte Berichterstattung auf die großen Kirchen zurückzufallen. Letztlich aber war es vor allem die Frage der Seelsorge, die innerkirchlich Unbehagen auslöste. Vorwürfe, wie die der ehemaligen evangelischen Pfarrerin und thüringischen Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht, die Kirchen würden die Menschen im Stich lassen, wogen schwer, und sie wurden umso entschiedener zurückgewiesen.

Den Kirchen fehlte ein theologisches Anliegen in der Krise

Diese Debatten haben aber nicht nur eine innerkirchliche Bedeutung, sondern sie verweisen auf ein grundsätzliches Strukturproblem im Verhältnis von Staat und Kirche beziehungsweise Staat und Religionsgemeinschaften sowie Staat und Weltanschauungsgemeinschaften. Da die Corona-Pandemie religiös oder theologisch im öffentlichen Raum nicht deutbar ist und diese Deutung allein auf den privaten, seelsorgerlichen Raum begrenzt ist, erwies sich der Umgang damit in der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit letztlich als gänzlich säkular. Die großen Kirchen in Deutschland agieren gerne in dieser Öffentlichkeit, weil sie hoffen, hier immer noch Anerkennung und Gehör zu finden. Gerade dadurch aber, dass die Kirchen das taten, was richtig war, nämlich zur Vernunft zu raten und die staatlichen Vorgaben in dem ihnen zugänglichen Bereich der Gesellschaft umzusetzen, wurden sie in ihrem eigenen Anliegen unkenntlich, zumal sie religiös und theologisch gesehen ja auch gar keines hatten.

Die immer noch enge Bindung der großen Kirchen an den Staat wurde in dieser Situation noch einmal besonders sichtbar, auch wenn diese Bindung ein positives Ergebnis hatte: Religion konnte und kann hier (eigentlich) nicht zum Vorwand für Unvernunft und verqueres Denken werden. Andererseits stellte sich die Frage, warum Religionsgemeinschaften immer noch in der Öffentlichkeit mit staatlicher Rückendeckung einen derart großen Resonanzraum beanspruchen können, wenn sie letztlich nichts zu sagen haben. Hier wirkt sich wahrscheinlich, jedenfalls im Blick auf die evangelische Kirche, die in weiten Teilen der Politik geteilte Hochstimmung des Reformationsjubiläums 2017 aus. Hinter das Postulat einer Nützlichkeit der Religion für Staat und Gesellschaft kommt man so leicht nicht zurück. Dabei hat sich die politische Entscheidung, den Reformationstag zum gesetzlichen Feiertag zu machen, für die evangelische Kirche als Danaergeschenk erwiesen: Sie vermag es noch nicht einmal, diesen religiösen Feiertag mit Sinn zu füllen. Andererseits haben die Kirchen auch nicht den Anlass genutzt, die Freundlichkeiten zu erwidern, indem sie nämlich den notorischen Streitpunkt der Staatsleistungen an die Kirchen mit einer Verzichtserklärung erledigt und damit ihre Solidarität in Corona-Zeiten dokumentiert haben. Diese allein historisch begründeten Staatsleistungen abzuschaffen, ist ja nicht einmal eine allein politische, sondern auch eine in kirchlichen Kreisen verbreitete Forderung.

Die Kirchen können ihr Publikum im Lockdown kaum erreichen

Worüber sich aber die großen Kirchen im Corona-Jahr am meisten Gedanken gemacht haben, ist das Geld, und das ist vor allem das Geld des kirchensteuerzahlenden Kirchenvolkes: Mit diesem wurde in den vergangenen Jahrzehnten ein undurchschaubarer Apparat von Dienststellen der evangelischen und der katholischen Kirche finanziert, so dass nur ein Bruchteil der Kirchensteuern dem eigentlichen Auftrag der Kirche zugute kommt: nämlich die Weitergabe, die Weiterentwicklung und die praktische Umsetzung von Religion zu bewerkstelligen.

Als die gewohnten Kommunikationskanäle zusammenbrachen, die vor allem in mündlichen Mitteilungen in den Gottesdiensten und Gemeindeversammlungen bestanden, wurde wenigstens einigen Verantwortlichen bewusst, dass man kein Medium zur Verfügung hatte, mit dem man das überalterte Stammpublikum oder gar Jüngere hätte erreichen können, einmal abgesehen von dem alle drei Monate erscheinenden Mitteilungsblatt der Kirchengemeinde. Die Kirche war im kommunikativen Lockdown, vielerorts jedenfalls. Versuche mit unprofessionellen Websites oder missglückten Youtube-Andachten, für die man auch noch teures Geld bezahlte, waren vor allem Dokumente der Hilflosigkeit und der selbstverliebten Verlorenheit im virtuellen Raum. Ausnahmen bildeten Gemeinden, die generationell gemischt waren und generell auf Ehrenamtliche zurückgreifen konnten, die mit modernen Medien vertraut waren.

Weihnachten im Coronajahr

Nun steht Weihnachten vor der Tür – eigentlich ein christliches Fest, das aber, ideologisch nicht ganz unschuldig, im 20. Jahrhundert zum „deutschesten aller Feste“ geworden ist. Die Beschwörung der Gemeinschaft (wenn auch nicht mehr der Volksgemeinschaft) und der Familie (wenn auch nicht mehr der Mutterschaft) ist an dem Fest haften geblieben und nach 1945 mit Symbolen der Wohlstandsgesellschaft aufgeladen worden. Im Zeichen von Corona ist Weihnachten auch im säkularen Staat ein Politikum geworden, und es ist die Politik, die sich an der Sinnstiftung versucht: Weihnachten ist das Lagerfeuer, an dem sich die „Familie“ wärmt, ohne dass auch nur beiläufig erwähnt worden wäre, wie vielfältig deren Formen sein können. Eine Zeitlang konnten die Kirchen hoffen, auf diesem Fundament die Heiligabendgottesdienste planen zu können, nachdem schon die Ostergottesdienste ausgefallen waren. Aber genau an der Frage der Gottesdienste schieden sich wieder die Geister im Blick auf die Risikoabwägung und im Blick auf die Frage, warum in einem säkularen Staat Gottesdienste mehr zählen sollten als kulturelle Veranstaltungen (, die im Übrigen auch sinnstiftenden Charakter haben können). Unterdessen steht auch die Abhaltung von Gottesdiensten in Frage.

So oder so: Weihnachten steht im Kalender und wenn es nur als Ferienzeit ist. „Happy Holidays“ könnten sich inzwischen wohl die meisten Deutschen ganz säkular zurufen. Im Kern aber ist Weihnachten doch Religion, und die geht ganz einfach, auch ohne Gottesdienst in diesen Zeiten, notfalls mit Bachs Weihnachtsoratorium: „Brich an, o schönes Morgenlicht, und lass den Himmel tagen! Du Hirtenvolk, erschrecke nicht, weil dir die Engel sagen, dass dieses schwache Knäbelein soll unser Trost und Freude sein.“