Pressemitteilung 2020/174 vom

In dieser Woche stellt die Bundesregierung die Corona-Warn-App vor, die registriert, sobald es zwischen zwei Personen zu einem Kontakt gekommen ist, bei dem es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einer Übertragung des Sars-CoV-2 Virus hätte kommen können. Prof. Dr. Alfred Winter vom Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie (IMISE) der Universität Leipzig erläutert, wie mit der App die COVID-19-Pandemie eingedämmt werden soll. Er geht auch darauf ein, warum die App selbst dann sinnvoll sein könnte, wenn Smartphone-Besitzer sie nicht flächendeckend herunterladen würden. Zwingend notwendig sei eine wissenschaftliche interdisziplinäre Begleitforschung, sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS).

Herr Professor Winter, wie funktioniert eigentlich die neue Corona-Warn-App? 

Die „Corona-Warn-App“ der Bundesregierung ist eine sogenannte Contact-Tracing-App. Das heißt, mit der Corona-Warn-App wird registriert, wenn es zwischen zwei Personen zu einem Kontakt gekommen ist, bei dem es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einer Übertragung des Sars-CoV-2 Virus hätte kommen können. Solche Contact-Tracing-Apps gibt es in unterschiedlichen Formen bereits in einigen Ländern. Die deutsche Corona-Warn-App basiert wie ähnliche Apps in Österreich und der Schweiz auf einer strikt dezentralen Architektur, die völlig ohne die zentrale Aufzeichnung des Bewegungsprofils der Nutzer auskommt. Auch das Risiko einer Ansteckung bei einem Kontakt wird nur auf dem eigenen Smartphone berechnet.

Die Corona-Warn-Apps funktionieren so: Immer wieder erzeugt eine App eine zeitlich begrenzt gültige Identifikationsnummer für das jeweilige Smartphone. Bei einer räumlichen Annäherung der Smartphones von zum Beispiel Frau Müller und Herrn Meier mit der Corona-Warn-App tauschen die beiden Geräte die aktuelle Identifikationsnummer aus und speichern sie für maximal zwei Wochen. Sollte innerhalb der beiden Wochen Herr Meier positiv auf Covid-19 getestet werden, lädt Herr Meier alle noch gespeicherten Identifikationsnummern auf einen zentralen Server hoch. Niemand kann irgendetwas mit diesen Nummern anfangen - nur Frau Müller. Die Corona-Warn-App auf ihrem Smartphone überprüft nämlich regelmäßig, ob eine ihrer in der letzten Zeit gültigen Identifikationsnummern auf dem Server gespeichert sind.  Wenn ja, berechnet die App das Risiko einer Ansteckung und informiert Frau Müller.

Was halten Sie als Medizininformatiker und Epidemiologe von der App? 

Ich, und da spreche ich auch als Präsident der Fachgesellschaft GMDS, halte eine solche App als integrativen Baustein einer Gesamtstrategie zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie für sinnvoll und im Hinblick auf den Datenschutz für völlig in Ordnung. Leider können wir jedoch den Nutzen der Corona-Warn-App auf Basis der verfügbaren Daten aktuell noch nicht beurteilen. Empirische Studien für die derzeit in Österreich eingesetzten  beziehungsweise  in Deutschland und der Schweiz geplanten Technologien liegen nicht vor. Umso mehr ist eine wissenschaftliche Begleitforschung zwingend notwendig. Das Hintergrundpapier des „Kompetenznetz Public Health COVID-19“, an dem auch die GMDS mitarbeitet, fordert die Evaluation der App hinsichtlich Akzeptanz, Wirksamkeit und Gerechtigkeit mit dem Fokus auf die  Alters- und geschlechterdifferente Nutzung, die Nutzung in Abhängigkeit des sozioökonomischen Status, um gegebenenfalls  nachjustieren zu können.

Wie viele Personen oder Haushalte müssten die App verwenden, um belastbare Aussagen zur Verbreitung der COVID-19-Pandemie treffen zu können?
Bei der Corona-Warn-App geht es nicht darum, möglichst viele Daten zu sammeln, um generelle Aussagen zur Verbreitung des Virus machen zu können. Big Data ist hier nicht das Thema. Es geht darum, im Einzelfall Personen zu warnen, dass sie sich infiziert haben könnten. So erhofft man sich, die Pandemie insgesamt einzudämmen, weil man mit Hilfe der Betroffenen einfacher und schneller die Infektionsketten aufklären kann. Dafür ist es wichtig, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger mitmachen und die App auch nutzen.

Eine Studie aus Großbritannien hat gezeigt, dass 56 Prozent der Bevölkerung die App nutzen müssten, um die Pandemie wirksam einschränken zu können. Allerdings basiert diese Studie auf den Daten zu Beginn der Pandemie in China und ist kaum noch übertragbar. Die Erfahrungen in anderen Ländern, zum Beispiel in Singapur, zeigen aber deutlich geringere Nutzungsraten. Ich persönlich kann mir vorstellen, dass auch eine hohe Nutzungsrate nur in einer Region, einer Stadt oder einem Stadtviertel, vielleicht nur  in einem Milieu für die jeweilige Nutzergruppe positive Effekte haben kann.

Welche positiven Nebeneffekte könnte die App hervorrufen, damit Bürgerinnen und Bürger diese auch gerne nutzen?
Es ist sehr wichtig, Anreize für die Nutzung der Corona-Warn-App zu schaffen. Einerseits gibt es ein Eigeninteresse, frühzeitig über eine mögliche Infektion informiert zu sein und damit zum Beispiel auch die Möglichkeit zu haben, einen Test zu bekommen. Andererseits muss die Öffentlichkeitsarbeit auch an den Altruismus, die Solidarität und die individuelle Verantwortung für die öffentliche Gesundheit appellieren. Ich persönlich fände eine App-basierte Warnung gerade für die Gestaltung der Besuche bei meiner hochbetagten Schwiegermutter sehr hilfreich. 

Bei welchen Erkrankungen wäre so eine App noch sinnvoll? ‎Ist am IMISE dazu etwas in Planung?

Am IMISE befassen wir uns in meiner Arbeitsgruppe mit Informationssystemen im Gesundheitswesen. In den vergangenen Jahren lag die Konzentration dabei auf Krankenhaus-Informationssystemen. Immer mehr nehmen wir aber auch das persönliche Umfeld der Bürgerinnen und Bürger in den Blick; denn sie müssen auch in ihrem Zuhause Informationen über ihre Gesundheit verarbeiten. Ich sehe die Corona-Warn-App als wichtigen Baustein für ein persönliches Informationssystem, in dem Bürgerinnen und Bürger Unterstützung finden, um zum Beispiel vor akuten Gesundheitsbedrohungen gewarnt zu werden oder um den Kontakt zur Arztpraxis oder dem Krankenhaus herzustellen.