Pressemitteilung 2015/079 vom

Kämpfe unter Artgenossen sind völlig normal. Um Futter oder Partner konkurrieren die Tiere eben. Aber eine ernste Verletzung wollen sie partout vermeiden. Kosten und Nutzen einer Kampfhandlung sind abzuschätzen. Aber wie soll das gehen, wenn kein rationales Denken möglich ist? Für die besonders kampfeslustigen Grillen ist nun klar: Es gibt einen Mechanismus. Dabei werden wichtige Informationen sozusagen addiert - ist das Maß voll, entscheiden sich die Grillen zur Flucht. Kurios: Selbst der theoretisch starke Gewinner ist anschließend vor allem stark anfällig für negative Erfahrungen. Forscher um den Neurobiologen Paul Stevenson von der Universität Leipzig erklären diese Phänomene mit der Freisetzung des natürlichen Botenstoffs Stickoxid ins Gehirn. Ihre Erkenntnisse haben sie in der Online-Fachzeitschrift "Science Advances" veröffentlicht.

"Entscheidend für den Ausgang eines Kampfes ist nicht unbedingt, ob eine Grille wirklich stärker ist als ihr Kontrahent - sondern wie viel der bereit ist einzustecken", erläutert Stevenson. "Selbst eine Grille, die blind ist oder ihre kräftigen Mandibeln, ihre Mundwerkzeuge, nicht benutzen kann, tritt zum Kampf an. Und ihr scheinbar klar überlegener Gegner gibt oft auf, ohne ersichtlichen Grund."

Der Engländer glaubt, den Grund nun zu kennen. "Auch die eigentlich unterlegene Grille teilt aus, mit Drohgebärden, Geräuschen, Schlägen. Ihr Gegner addiert diese Informationen - bis zu einem gewissen Punkt. Ist der erreicht, beendet er den Kampf, gegebenenfalls als Verlierer." Im Grillenkörper werde bei jedem Negativerlebnis ein Enzym aktiviert, das wiederum ein Gas freisetze: Stickoxid. "Dieser Botenstoff macht Tiere weniger aggressiv, auch bei Säugetieren ist das so. Die Gleichung ist einfach: Je mehr davon zusammenkommt, desto höher die Wahrscheinlichkeit der Flucht."

Die Wissenschaftler haben nun in ihren Versuchen das Freisetzen des Stickoxids bei je einer Grille blockiert. Mit der Blockade im Körper bleibt eine blinde Grille lange aggressiv genug, um als Sieger aus dem Kampf hervorgehen zu können - und selbst eine Grille mit gelähmten Mandibeln kann gewinnen. Die Treffer, die sie einsteckt, können zahlreich sein - aber beim Kontrahenten ist schneller der Punkt erreicht, an dem er aufgibt.

Was macht der Gegner? Wie viel Stickoxid wird freigesetzt? Darum gehe es, so der Leipziger Forscher. Doch in dem Fachartikel, den Stevenson und sein Co-Autor Dr. Jan Rillich von der Freien Universität Berlin verfasst haben, gibt es noch ein zweites Thema: die Phase direkt nach dem Grillenkampf. "Normalerweise ist der Sieger besonders aggressiv und geht sozusagen gestärkt aus dem Kampf hervor", sagt Stevenson. "Aber nicht bei einem direkten Folgekampf gegen einen neuen Konkurrenten, dann gibt er schnell auf." Die Gleichung aus Kampf Nummer eins gelte noch immer, zumindest für eine kurze Zeit. "Die neuen Gegentreffer werden zu den bisherigen addiert." Die Aggression, die nötig sei, um sich dem Kampf zu stellen, werde unterdrückt - es sei denn, eine Stickoxid-Blockade wirkt.

"Grillen haben also eine Strategie, der aber keine höhere kognitive Leistung zugrunde liegt, sondern eine Addition gegnerischer Reize", fasst Paul Stevenson die neuen Erkenntnisse zusammen. "Dieser Mechanismus hat mit Stickoxid zu tun." Nun ließe sich zum Beispiel fragen, wie sich das bei anderen Tieren verhält, oder auch bei Menschen. Ist eine Denkleistung entscheidend oder sind es vielleicht auch solch simpel anmutende Prozesse? Denkbar sei, so Stevenson, dass Ergebnisse wie die jetzt präsentierten irgendwann zum Beispiel bei der Behandlung posttraumatischer Belastungen eine Rolle spielen können.

Fachveröffentlichung:
Adding up the odds - Nitric oxide signaling underlies the decision to flee and post-conflict depression of aggression, in Science Advances
doi: 10.1126/sciadv.1500060