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Die Frau bricht in Tränen aus, als sie auf ihre bisherigen Liebesbeziehungen angesprochen wird. „Ich hatte noch nie einen Freund, mich will doch auch keiner“, sagt sie. In einer Fernsehdokumentation erzählt die junge Frau von ihrem Leben mit Übergewicht – von jahrelangen Diskriminierungen und Häme. Andere Protagonisten berichten im Film auch von Suizidgedanken, weil sie die gemeinen Kommentare, Benachteiligungen und Zurückweisungen wegen ihres Gewichts nicht mehr aushalten. Können Szenen wie diese Fernsehzuschauer dazu bewegen, ihre Einstellungen gegenüber Menschen mit Übergewicht zu ändern? Welchen Einfluss hat die Medienberichterstattung generell auf Stigmata und Diskriminierung in unserer Gesellschaft?

An die Forschung heranführen
Studierende wollten genau das in ihrem Forschungsseminar an der Universität Leipzig herausfinden. In einem aufwändigen Versuchsdesign spielten sie Versuchsteilnehmern verschiedene Teile aus der TV-Doku vor und ermittelten ihre Einstellungen gegenüber Personen mit Übergewicht. „Die Studierenden waren von Anfang an sehr involviert. Wir haben im Seminar sehr leidenschaftlich über das Thema Adipositas diskutiert, sodass für uns schnell klar war: Das wollen wir genauer erforschen“, sagt Prof. Dr. Anne Bartsch vom Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft. Sie hat das Seminar geleitet und die Studierenden bei ihrem eigenständig entwickelten Forschungsprojekt unterstützt. „Ich finde das sehr wichtig, nur so können wir Studierende für gute Qualität wissenschaftlicher Studien sensibilisieren. Zum anderen können wir damit Begeisterung für die Wissenschaft wecken. Ich merke immer wieder, dass es für die Studierenden etwas ganz Besonderes ist, selbst ein Experiment durchzuführen. Wissenschaft ist eben nicht nur etwas für Professoren und Lehrbuchautoren.“

Das Experiment selbst konzipiert
Thema des Seminars im Sommersemester 2017 waren pro-soziale Botschaften in der Online-Kommunikation. Nachdem das Thema gefunden war, arbeiteten sich die Studierenden erstmal ins Thema ein und lasen Literatur zu Adipositas und zur Stigmata-Forschung. Die 16 Seminarteilnehmer teilten sich dann in verschiedene Gruppen: Die einen erstellten die Videos für das Experiment, oder den Online-Fragebogen, die anderen werteten die Ergebnisse statistisch aus. Um die Effekte der Medienberichterstattung messen zu können, mussten im Experiment verschiedene Versionen des Stimulus, in diesem Fall der TV-Doku, hergestellt werden. In mühevoller Kleinarbeit schnitten die Studierenden aus der umfangreichen Doku vier unterschiedliche Kurzvideos zusammen: Der erste Beitrag berichtete ganz neutral über die Entwicklung der Adipositas und die Kosten für das Gesundheitssystem. Ein weiterer klärte über die Ursachen von Adipositas auf, der nächste zeigte Schilderungen von Betroffenen. Der vierte Film kombinierte beides: Er berichtete über die Ursachen der Erkrankung und enthielt zugleich die Schilderungen der Menschen, die mit Übergewicht und Stigmatisierung leben müssen. Welche Version würde wohl die größten Effekte erzielen und die Einstellungen der Versuchsteilnehmer ändern? Sind Medienberichte überhaupt dazu in der Lage?

Ergebnisse belegen die These der Jungforscher
Um diese Fragen zu beantworten, bekamen die Teilnehmer des Experiments eine der vier Film-Varianten vorgespielt. Ergänzend dazu wurden sie zu ihren Einstellungen gegenüber Menschen mit Adipositas befragt: Ob sie sich beispielsweise vorstellen können, mit ihnen befreundet zu sein oder sie selbst Schuld sind an ihrem Übergewicht. Die ersten Ergebnisse ihres Experiments tauschten die Seminarteilnehmer in einer Sitzung Anfang Juli aus. Schritt für Schritt analysierten die Studierenden die Antworten der Probanden. „Der Beitrag aus der Betroffenen-Perspektive hat viele Teilnehmer zum Nachdenken angeregt“, berichtet eine Studentin aus ihrer Analyse. „Zugleich hat das Video, das über die Ursachen von Adipositas aufklärt, dazu geführt, dass weniger den Übergewichtigen selbst die Schuld zugeschrieben wurde.“ Besonders starke Effekte haben die Nachwuchsforscher für Empathie gefunden: Viele Versuchsteilnehmer waren gerade nach dem Film, in dem Betroffene aus ihrem Leben mit Adipositas erzählt haben, bewegt, ergriffen und fühlten sich diesen Menschen nahe. „Wenn wir diese Effekte sogar in unserer relativ hoch gebildeten Stichprobe nachweisen konnten, ist das doch eine sehr gute Botschaft. Selbst hier können Schuldzuweisungen und diskriminierende Einstellungen durch Medienberichte verändert werden“, bringt Anne Bartsch die Ergebnisse auf den Punkt.

Die Medien tragen Verantwortung
Das zeige auch, welch große Verantwortung die Medien gegenüber stigmatisierten Gruppen tragen. „In Komödien gelten dicke Menschen zwar als lustig, aber oft auch als faul, dumm und eklig. Diese Stigmata reproduzieren auch Fernsehserien. Ernstzunehmende Charaktere mit Übergewicht gibt es kaum“, so die Kommunikationswissenschaftlerin. Für sie ist Adipositas eines der letzten großen Themen, die in der Gesellschaft noch sehr unreflektiert behandelt werden. Bei der Diskriminierung von Frauen oder Menschen mit Behinderungen wisse man zwar, dass das normativ nicht in Ordnung sei. „Bei Adipositas ist das eben nicht so klar, weil es von vielen als selbstverschuldet betrachtet wird. Wer viel für seinen Körper tut, ist natürlich stolz darauf, wie schlank man ist und wie sehr man dem gängigen Schönheitsideal entspricht. Menschen mit Übergewicht wird dann schnell fehlende Willenskraft vorgeworfen“, erklärt Bartsch. Auch die Wissenschaft nimmt sie in die Pflicht: Neue Erkenntnisse zu Adipositas müssten die Forscher und Einrichtungen der Öffentlichkeit verstärkt kommunizieren.