Pressemitteilung 2021/159 vom

Der Ausgang der Bundestagswahl am 26. September dieses Jahres ist nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Dr. Hendrik Träger von der Universität Leipzig so offen wie seit Jahren nicht mehr. Zuletzt sei dies bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 der Fall gewesen: Damals lagen SPD und Union nur einen Prozentpunkt auseinander, nachdem die Umfrageinstitute lange Zeit die Konservativen deutlich – in manchen „Sonntagsfragen“ bis zu 20 Prozentpunkte – vor den Sozialdemokraten gesehen hatten. „Hätte die Wahl damals eine Woche später stattgefunden, wäre möglicherweise Gerhard Schröder Kanzler geblieben und Angela Merkel nicht Bundeskanzlerin geworden“, sagt Träger. Auch in diesem Jahr werde das Rennen um die Kanzlerschaft und die Gunst der Wähler:innen besonders spannend. Das liege vor allem daran, dass nach dem Ende von Merkels Amtszeit keine:r der Kandidat:innen mit dem Bonus des Amtsinhabers punkten kann und sich die klassische Wählerschaft geändert habe.

„Die Parteibindung war in Ostdeutschland schon immer schwach ausgeprägt, aber auch in Westdeutschland nimmt sie mittlerweile spürbar ab“, erklärt der Experte. Soziale Milieus hätten nicht mehr die Bedeutung wie früher, als die Kirchen oder die Gewerkschaften zum Wählen aufriefen und die Menschen die entsprechende Partei wählten. In Ostdeutschland hatten die Parteien gar nicht so viel Zeit, an der Bindung ihrer Stammwähler:innen zu arbeiten, wie das über die Jahrzehnte in Westdeutschland geschehen ist. Von einer geringen Wahlbeteiligung profitierten aber letztlich häufig Parteien mit einem hohen Anteil an Stammwähler:innen, wie das in der Vergangenheit zeitweise bei der Union unter Kanzlerin Merkel der Fall gewesen sei. 

„Alle Parteien müssten jetzt eine hohe Wahlbeteiligung anstreben. Auch wenn es in Deutschland mehr als 60 Millionen Wahlberechtigte gibt, könnten am Ende einige Tausend Stimmen entscheidend sein“, so Träger. Die SPD sei in Umfragen jetzt in Bereichen, die „noch vor fünf oder sechs Wochen in scheinbar unerreichbarer Ferne“ gelegen hätten. Demgegenüber haben Bündnis 90/Die Grünen und die Unionsparteien gegenwärtig deutlich an Zustimmung verloren. Das zeige die Ambivalenz der wahlberechtigten Bevölkerung. 

Im Vergleich zu den über 60-Jährigen sei die Gruppe der jungen Wähler:innen deutlich kleiner. Hinzu komme, dass die 18- bis 30-Jährigen seltener wählen gehen als ältere Menschen. Das habe zur Folge, dass sich die Relationen zwischen den Altersgruppen verschieben. „Die jungen Wählerinnen und Wähler müssten zu hundert Prozent wählen gehen, um die Interessen ihrer Altersgruppe in die Waagschale zu werfen“, betont der Politikwissenschaftler. Wie wissenschaftliche Studien zeigen, unterscheidet sich die Wahlbeteiligung je nach sozioökonomischer Gruppe und demnach von Stadtteil zu Stadtteil. „Das konnte man unter anderem bei der Bundestagswahl 2017 auch in Leipzig beobachten“, erklärt Träger. „Damals lag die Wahlbeteiligung in Grünau-Nord bei 62,2 Prozent und in Grünau-Siedlung bei 79,4 Prozent. Diese Ortsteile grenzen zwar aneinander, unterscheiden sich jedoch beispielsweise hinsichtlich der Arbeitslosenquote und des verfügbaren Haushaltseinkommens deutlich.“ Forschende sprechen von einem selbstexklusiven Moment, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen den Eindruck haben, ihre Stimme zähle nicht und sich deshalb selbst von der Wahl ausschließen. „Dadurch verschieben sich die Stimmanteile, und das bildet sich auch im Wahlergebnis ab“, erläutert Träger. Eine generelle Wahlmüdigkeit sieht er nicht. Viele Menschen seien – auch bedingt durch Corona-Themen wie Impfen, Lockdown und Schulschließungen – mehr als früher an Politik interessiert. 

Hinweis:

Dr. Hendrik Träger ist einer von mehr als 150 Experten der Universität Leipzig, auf deren Fachwissen Sie mithilfe unseres Expertendienstes zurückgreifen können.