Pressemitteilung 2021/050 vom

Ein Forschungsteam der ETH Zürich und der Universität Warwick hat in Zusammenarbeit mit zwei Schweizer Elektrizitätswerken untersucht, wie sich die Revision des dortigen Bestellverfahrens auf die Nachfrage nach „grünem“ Strom ausgewirkt hat. Das Ergebnis: Wenn „grüner“ Strom die Standard-Option ist, entscheiden sich Haushalte und Unternehmen deutlich häufiger dafür und bleiben in der Regel auch dabei. „Diesen sehr starken Effekt haben wir in einem Beispiel-Szenario für Deutschland durchgerechnet“, berichtet Prof. Dr. em. Andreas Diekmann von der ETH, der auch Seniorprofessor an der Universität Leipzig ist. „In der Bundesrepublik könnte sich demnach die CO2-Reduzierung auf etwa 45 Millionen Tonnen belaufen.“

Zusammen mit Jennifer Gewinner (ETH) und Ulf Liebe (Warwick) hat der Soziologe Diekmann die Daten der Stromnachfrage von 233.907 Haushalten und 8772 Unternehmen mit ökonometrischen Methoden analysiert. Ihre Ergebnisse haben die Wissenschaftler soeben im Fachblatt „Nature Human Behaviour“ publiziert. 

Die Haushalte bezogen vor der Umstellung als Standardangebot fast ausschließlich einen konventionellen Strommix. Nur wer aktiv Strom aus erneuerbaren Quellen wünschte, konnte den „grünen“ Strom unter Mehrkosten bestellen („opt out“). Nach der Umstellung verhielt es sich umgekehrt. Nun wurde der „grüne“ Strom zum Standardangebot gemacht. Wer günstigeren konventionellen Strom bestellen wollte, musste dies dem Stromversorger mitteilen. Für die Forschungsgruppe entsprach die Umstellungspraxis einem groß angelegten Interventionsexperiment, mit dem der Effekt einer Maßnahme studiert werden kann. 

„Aus verschiedenen Studien über Organspenden oder die Energienachfrage bis hin zum einseitigen Ausdruck bei voreingestellten Druckern ist bekannt, dass die Standardeinstellung, der sogenannte „Default-Effekt“, starke Verhaltensänderungen hervorrufen kann. Die vorliegende Untersuchung geht aber über diese Arbeiten hinaus“, berichtet Andreas Diekmann. 

Zunächst basiere die Studie auf einer außerordentlich großen Fallzahl, die statistische Fehlerschwankungen nahezu ausschließe. „Zweitens konnte die Stromnachfrage bei einem der beiden Stromversorger über einen längeren Zeitraum von sechs Jahren beobachtet werden, davon fünf Jahre nach der Umstellung. Es stellt sich nämlich die Frage, ob der Default-Effekt nach kurzer Zeit abflaut.“ Eine dritte Besonderheit sei, dass auch kleine und mittlere Unternehmen in die Untersuchung eingingen. 

Überrascht war das Forschungsteam von dem außerordentlich starken Effekt der neuen Standardoption. Vor der Umstellung fragten die Haushalte 3 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien beim Stromversorger A nach und 1,2 Pozent bei Versorger B. Nach der Umstellung dominierte „grüner“ Strom. Sein Anteil stieg bei Versorger A auf 85 Prozent und bei Versorger B auf 89 Prozent. Der „Default-Effekt“ trieb die Nachfrage nach grünem Strom um mehr als 80 Prozent hoch, obwohl der Strom aus erneuerbaren Energien 3,6 Prozent (Tagstrom) beziehungsweise 8,3 Prozent (Nachtstrom) teurer war als der konventionelle Strom. „Erstaunlich war auch, dass noch fünf Jahre nach der Umstellung rund 80 Prozent der Haushalte beim Grünstrom geblieben sind“, sagt Jennifer Gewinner. 

Auch bei den Unternehmen war ein starker „Default-Effekt“ zu beobachten. Bei Versorger A stieg der Anteil von 3 Prozent auf 77 Prozent und bei Versorger B von 0,7 Prozent auf 84,7 Prozent. Auch hier war der Rückgang sehr gering. 

Den sehr starken Effekt der Umstellung auf die „grüne“ Standardoption hat die Forschungsgruppe in einem Beispiel-Szenario auf die Einsparung von CO2-Emissionen in Deutschland für das Jahr 2018 hochgerechnet. In jenem Jahr betrug der Strombedarf der privaten Haushalte in Deutschland 127 Terawattstunden (TWh) mit einem CO2-Emissionsfaktor von 512 Gramm pro Kilowattstunde (KWh). Basierend auf Zahlen des Umweltbundesamtes konnten die Forscher einen CO2-Emissionsfaktor von 67,94 Gramm/KWh für den deutschen erneuerbaren Energiemix berechnen. „Die Nutzung erneuerbarer Energien spart also 444 Gramm CO2 pro Kilowattstunde an CO2-Emissionen ein, was 87 Prozent entspricht“, erläutert Andreas Diekmann. „Basierend auf den oben genannten Zahlen würde sich bei einem Default-Effekt von 80 Prozent die gesamte CO2-Reduzierung auf etwa 45 Millionen Tonnen belaufen.“ 

Die einfache Maßnahme der Umstellung auf eine „grüne“ Standardoption könne ohne großen Kostenaufwand erheblich zur Reduktion von CO2-Emissionen beitragen. Und bedenke man die sozialen Kosten von Kohlenstoff, ergäbe sich laut Diekmann „konservativ geschätzt ein positiver Wohlfahrtseffekt von über einer Milliarde Euro allein für die privaten Haushalte in Deutschland“. 

Original-Publikation in "Nature Human Behaviour":
Liebe, U.; Gewinner, J.; Diekmann, A.: “Large and Persistent Effects of Green Energy Defaults in the Household and Business Sectors” 
DOI: 10.1038/s41562-021-01070-3