„In der Nachwuchsforscherungsgruppe geht es um die Frage, ob jeder Mensch einzigartig darin ist, wie er seinen Wortschatz verwendet. Wenn zum Beispiel jemand ein kurzes Video beschreibt, finden wir eine erstaunliche Vielfalt an Möglichkeiten, wie Personen, Objekte oder Ereignisse bezeichnet werden können. So sehr, dass wir kaum Überlappungen zwischen zwei oder drei Berichten finden, auch wenn das Video eine ganz alltägliche Situation zeigt“, erklärt Anna Shadrova. Die Wissenschaftler:innen wissen ihr zufolge nicht, ob diese Unterschiede stabil für die einzelnen Sprecher:innen auftreten oder ob es keine solchen Muster gibt und dieselbe Situation jedes Mal ganz unterschiedlich beschrieben wird. Ein Beispiel: Räumt jemand Einkäufe in einen Kofferraum, werden in der Beschreibung schon bei einer kleinen Teilnehmerzahl dutzende Verben wie ein-/rein-/raus-/weg-/-laden/-packen/-tun/-legen, verstauen, verladen, verräumen und so weiter verwendet.
Besonders interessant sei dieser Sachverhalt, wenn noch verschiedene Sprachen hinzu kommen, denn bestimmte Verwendungsmuster übertragen sich zwischen den Sprachen. Das passiert selbst dann, wenn beide Sprachen von Kindheit an gesprochen und perfekt beherrscht werden. „Aus unserer Forschung ergeben sich viele spannende Fragen dazu, wie Sprache funktioniert: Wie ist zum Beispiel die Beziehung zwischen unserem Wortschatz im Gedächtnis, dem mentalen Lexikon, und dem Wortgebrauch?“, sagt die Sprachwissenschaftlerin und Germanistin. Ihre Nachwuchsforschungsgruppe werde in dem Zusammenhang unter anderem den Fragen nachgehen, ob die Struktur des mentalen Lexikons bestimmt, wie wir Wörter verwenden. Und wenn es solche Muster gibt, ob sie bei allen gleich sind oder ob es individuelle Unterschiede gibt.
Sind mehrsprachige Sprecher:innen flexibler oder kreativer in ihrem Wortgebrauch?
Da der Wortgebrauch auch viel damit zu tun hat, wie wir Texte schreiben und wie wir argumentieren, betreffe die Forschung der Gruppe auch das Bildungssystem. Untersucht werden soll zum Beispiel, ob mehrsprachige Sprecher:innen flexibler oder kreativer in ihrem Wortgebrauch sind und wie sich das auf ihre Sprachproduktion etwa in der Schule oder im Studium auswirkt.
In zwei dreijährigen Phasen wird zunächst geklärt, wie sich lexikalische Gebrauchsmuster überhaupt sinnvoll beschreiben, quantifizieren und vergleichen lassen. Die Ergebnisse werden dann mit psycholinguistischen, experimentellen Daten derselben Sprecher:innen verglichen. Ziel ist die Entwicklung eines Modells vom Lexikon in Kognition, Gebrauch und Entwicklung, aus dem wichtige Erkenntnisse über die Vielfalt des sprachlichen Denkens und Sprachlernens in der zunehmend multikulturellen Gesellschaft hervorgehen könnten. Dafür kooperieren Expert:innen des Herder-Instituts der Universität Leipzig mit Forschenden des Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, der Universität Duisburg-Essen sowie der Rijksuniversiteit Groningen.
Dr. Anna Shadrova hat in Bremen und Berlin Germanistik, Linguistik und Musikpädagogik studiert und wurde an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fach Allgemeine Sprachwissenschaft promoviert. Von 2021 bis 2024 leitete sie gemeinsam mit Prof. Dr. Anke Lüdeling an der Humboldt-Universität das Projekt „Corpus-linguistic methods“ im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe „RUEG – Research Unit Emerging Grammars in Language Contact Situations“.