Pressemitteilung 2021/233 vom

Medikamente haben mehr Einfluss auf die Darmbakterien als die Erkrankungen, gegen die sie eingesetzt werden – positiv als auch negativ. Das haben Wissenschaftler:innen aus ganz Europa, darunter Prof. Dr. Michael Stumvoll und Dr. Rima Chakaroun von der Leipziger Universitätsmedizin, herausgefunden. Die Erkenntnisse zu Patient:innen mit kardiometabolischen Erkrankungen wurden aktuell in der renommierten Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Kardiometabolische Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, Fettleibigkeit und koronare Herzkrankheiten, die zusammengenommen weltweit die häufigste Todesursache darstellen, nehmen immer weiter zu. Erkrankte müssen oft über Jahre hinweg täglich mehrere Medikamente einnehmen, um ihre Gesundheit zu erhalten. Wie sich das sowohl auf die Krankheit als auch auf den Darm auswirkt, wurde nun von Wissenschaftler:innen aus sechs Ländern und mehr als 20 verschiedenen Einrichtungen in einem von der Europäischen Union finanzierten Forschungsprojekt untersucht.  

„Wir waren fast ein Jahrzehnt moderner Mikrobiomforschung reichlich naiv, die Rolle von Medikamenten, die alle durch den Darm gehen, auszublenden. Früh klar war schon die Bedeutung von Antibiotika, dann kam verzögert die von Metformin und Statinen. Jetzt dämmert uns, dass es im Prinzip alle Medikamente sein können, die die Zusammensetzung unserer Bakterien chronisch verändern. Diese Erkenntnis wird man bei zukünftigen Betrachtungen nie mehr ausblenden können“, sagt Prof. Stumvoll, Leiter der Klinik für Endokrinologie, Nephrologie, Rheumatologie am Universitätsklinikum Leipzig.

In der im renommierten Magazin "Nature" veröffentlichten Studie wurden Daten von 2.173 Patient:innen mit einer kardiometabolischen Erkrankung ausgewertet. Die wichtigste Erkenntnis ist, dass Medikamente einen stärkeren Einfluss auf die Zusammensetzung der Darmbakterien und auf den Stoffwechsel des Wirts haben können, als die Krankheit, die Ernährung und das Rauchen zusammen. Das Ausmaß der beobachteten Veränderungen sei auch abhängig von der Höhe der Medikamentendosis gewesen. Zudem wurde festgestellt, dass viele der erwünschten, aber auch unerwünschten Wirkungen von Medikamenten im Körper indirekt erzielt werden, und zwar über die Veränderung des Mikrobioms.

Unerwartete Effekte medizinisch nutzen

Das Darmmikrobiom besteht aus Milliarden von Mikroorganismen, die in unseren Därmen leben und für das normale Funktionieren des Körpers von wesentlicher Bedeutung sind. In letzter Zeit hat das Mikrobiom aufgrund seiner Empfindlichkeit gegenüber Krankheiten in der Wissenschaft großes Interesse geweckt. „In Studien, die das Darmmikrobiom in Bezug auf die kardiometabolische Gesundheit untersuchen, wurde jedoch die Medikamenteneinnahme in der Regel nicht berücksichtigt. Somit ist es unklar, ob die beschriebenen Veränderungen des Mikrobioms bei Erkrankten ein Ausdruck der Krankheit oder lediglich ein Abbild der Therapie sind. Das ist wichtig zu verstehen, wenn man die Darmbakterien zur Förderung der Gesundheit nutzen will oder erfahren möchte, wie Medikamente ihre Wirkung auf den Körper entfalten", sagt Dr. Chakaroun, eine der Erstautorinnen der Studie und Wissenschaftlerin sowie Ärztin der Universitätsmedizin Leipzig.

In der Studie fanden die Forschenden heraus, dass sich gleichzeitig eingenommene Medikamente in ihrer Wirkung auf das Mikrobiom gegenseitig verstärken können. Die meisten Arzneien haben dabei einen durchaus positiven Effekt. So wurde gezeigt, dass die gleichzeitige Gabe von Betablockern und Diuretika, beide Medikamentenklassen, die gegen Bluthochdruck eingesetzt werden, im Darm mit einer steigenden Zahl von Bakterien der Gattung Roseburia assoziiert ist. Diese Keime wirken im Körper antientzündlich, indem sie Ballaststoffe abbauen und daraus kurzkettige Fettsäuren herstellen, die vor entzündlichen Prozessen schützen. Solch unerwartete Effekte von Medikamenten könnten sich künftig medizinisch nutzen lassen.

Wiederholte Antibiotika-Einnahme schränkt die Vielfalt des Darmmikrobioms ein

Die Studie weist auch auf potenziell schädliche Auswirkungen von wiederholten Antibiotika-Einnahmen hin, deren Einsatz in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen hat. Bei Patient:innen, die mehrfach Antibiotika eingenommen hatten, stellte das Team fest, dass das Darmmikrobiom an Vielfalt eingebüßt hat und damit eher einem krankheitsähnlichen Zustand entspricht. Es sei jedoch auch möglich, dass Patient:innen, die mehr Antibiotika einnehmen müssen, prädestiniert sind, kardiometabolische Erkrankungen zu entwickeln und dass diese Beziehung eher über einen gemeinsamen Nenner im Immunsystem moduliert wird. Antibiotika sollten jedoch weiterhin eingenommen werden, wenn eine entsprechende ärztliche Einschätzung es nahelegt, denn es ist in der Medizin längst angekommen: Antibiotika sollten nur nach strenger Indikation effizient und ökonomisch eingesetzt werden.

Originaltitel der Pubilkation in "Nature":
'Combinatorial, additive and dose-dependent drug–microbiome associations', Doi: 10.1038/s41586-021-04177-9