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Die Rede vom gesellschaftlichen Zusammenhalt lässt anklingen, dass die primäre Referenz für dessen Erhalt der Nationalstaat sei. Das Leipziger Teilinstitut des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt untersucht dagegen die vielen Maßstäbe, in denen Zusammenhalt angestrebt oder in Gefahr gesehen wird.

Drei Beispiele mögen zur Illustration genügen:

Droht die Überlastung der Intensivstationen durch die Zahl dramatischer Corona-Erkrankungen, wird wie selbstverständlich erwogen, die Schwerkranken im Bundesgebiet zu verteilen. Dagegen blieb die Zahl der Italiener und Franzosen, denen im Frühjahr, als die dortigen Krankenhauskapazitäten kollabierten, grenzüberschreitend Behandlung geboten wurde, im einstelligen Bereich. Lockdowns sind nationale Angelegenheiten, auch wenn ihre Regeln sich ähneln.

Endlos verhandelten die europäischen Regierungschefs im Frühjahr, wie man den Dammbruch einer wechselseitigen Haftung für Staatsschulden verhindern könnte. Dass sich am Ende doch das Argument durchsetzte, von einer drohenden Staatsinsolvenz im Süden hätten auch die erfolgreichen Exportnationen mangels zahlungskräftiger Kundschaft wenig, machte allerdings deutlich, dass die Sache nicht so einfach ist.

Von rechts schallt der Ruf nach Rückkehr zur D-Mark und nach strenger Migrationskontrolle, doch die Proponenten nationaler Alleingänge sind bemerkenswert vernetzt über Ländergrenzen hinweg, helfen sich gegenseitig in nationalen und Europawahlkämpfen und entwickeln eine transnationale Programmatik des nationalen Zusammenhalts.

Die Beispiele ließen sich fortsetzen, aber sie zeigen durchweg eine fundamentale Spannung, welche die Menschheit schon seit Längerem begleitet. Während die Verflechtung aller Gesellschaften immer intensiver wird und sich so verdichtet hat, dass es keiner Gesellschaft mehr möglich ist, sich über längere Zeit oder gar vollständig aus dieser Verschränkung zurückzuziehen, hat sich im historischen Verlauf, trotz aller UN-Organisationen, bisher kein regulatorischer Rahmen anstelle des Nationalstaates durchgesetzt, der den Herausforderungen einer zwischenstaatlichen beziehungsweise transregionalen Kooperation zu entsprechen scheint.

Dieser Widerspruch erzeugt heftige Spannungen in vielen Gesellschaften und zerrt so heftig an der internationalen Ordnung, dass viele den alten Multilateralismus schon verloren geben. Geht es also nur noch darum, die eigene nationale Gesellschaft gegen die Folgen transregionaler Verflechtungen abzuschotten, zu glauben, man sei anderen überlegen, und über all den Handelskonflikten, Sanktionsregimes und militärischen Interventionen die Herausforderungen für Klima und Biodiversität zu vergessen?

Die Frage, die sich daraus ergibt, ist scheinbar einfach: Braucht der gesellschaftliche Zusammenhalt ein Pendant in grenzüberschreitender Kooperation und Solidarität? Und wo stehen wir in Bezug auf einen globalen Zusammenhalt? Dass die Frage einfach zu formulieren ist, heißt jedoch nicht, dass sie einfach zu beantworten sei. Sie hat so viele Facetten, dass jede einzelne beteiligte Disziplin zu klein ist und es einer weit gefassten interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft bedarf.

Ist globaler Zusammenhalt überhaupt wünschbar, erwartbar, förderbar und durchsetzbar; sind seine immer wieder sichtbar werdenden Grenzen unüberwindbar oder kann er, etwa im Sinne eines „Kosmopolitismus“ oder universal akzeptierter „Menschenrechte“, einen normativen Horizont für eine wachsende Zahl von Akteuren bilden? Welche historischen Erfahrungen befördern oder belasten ihn? Welche kulturellen Traditionen stehen ihm entgegen und welche bilden sein mögliches Fundament? Welche Institutionenordnung wäre ihm günstig und welche steht ihm eher im Wege? Welche Technologien (vor allem die mit der Digitalisierung verbundenen) erweisen sich als Treiber eines globalen Zusammenhalts oder erweisen sich für dessen Fortbestand als hinderlich? Und welche (globalen) Herausforderungen treiben den Wunsch nach mehr globalem Zusammenhalt voran und welche erzeugen Abwehrkräfte gegen seinen Ausbau?

Die einen sehen den globalen Zusammenhalt in einer langen Tradition des Weltbürgertums wurzeln, andere verwerfen diese Idee als zu eurozentrisch. Fest steht, er kann nur zur normativen Leitidee werden, wenn man die Vielzahl unterschiedlicher Akteure zur Kenntnis nimmt, die ihre je eigene Vorstellung davon haben, wie solch ein globaler Zusammenhalt aussehen könnte und sollte.

Eine solche normative Leitidee hat das Potential, Handlungen anzutreiben, die ihre Einlösung wahrscheinlicher machen. Aber sie kann eben auch Handlungen und Einstellungen auslösen, die sich dieser Perspektive entgegenstellen.

Globaler Zusammenhalt ist nichts, was sich einfach herstellen lässt. Aber die Welt wächst nicht nur enger zusammen, weil dies etwa ein Erfordernis von Wirtschaft und Technologie wäre, sondern der Gedanke greift Raum, dieses Zusammenwachsen sei ohne eine geteilte Idee vom globalen Zusammenhalt und den damit zu bewältigenden Herausforderungen nicht zu verwirklichen oder ende andernfalls in dystopischen Verhältnissen.