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Bilingualität oder Zweisprachigkeit bedeutet, dass Menschen mit zwei Sprachen aufwachsen. Das bietet ein großes kulturelles Kapital. Zum Internationalen Tag der Muttersprache am 21. Februar berichtet Grit Mehlhorn, Professorin für Didaktik der slavischen Sprachen (Polnisch, Russisch, Tschechisch) am Institut für Slavistik, über Chancen von bilingual aufwachsenden Jugendlichen – und wie Eltern sie fördern können.

Frau Prof. Mehlhorn, wer bilingual aufwächst, spricht gleich zwei Sprachen perfekt – stimmt das eigentlich?

Nein. Der Begriff der Bilingualität selbst sagt noch nichts über die erreichte Kompetenz in den beiden Sprachen aus. Eine balancierte Zweisprachigkeit – also dass beide Sprachen gleichermaßen auf sehr hohem Niveau beherrscht werden –, ist eher selten. Die meisten Bilingualen haben eine ‚starke‘ und eine ‚schwache‘ Sprache. Diese Sprachendominanz kann sich im Laufe des Lebens verlagern. Wenn beispielsweise Russisch als Herkunftssprache in der Familie erworben wurde, ist diese Sprache im frühen Kindesalter dominant. Je länger das Kind in die Schule geht, desto stärker nimmt der Einfluss des Deutschen zu, da das Kind der deutschen Sprache auf Schritt und Tritt begegnet, nicht nur in der Schule, sondern auch im Alltag. Die Herkunftssprache wird im Kindes- und vor allem Jugendalter oft zurückgedrängt, da es ja nur wenige Kontaktpersonen gibt, mit der sie überhaupt gesprochen werden kann.

Wie unterscheiden sich die Begriffe Herkunftssprache und Muttersprache?

Herkunftssprache ist ein Fachbegriff, der vor allem von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern benutzt wird, die Herkunftssprachen erforschen. Gemeint ist eine Sprache, die unter Bedingungen begrenzten Sprachkontakts in einer anderssprachigen Umgebung erworben wird, wie das gerade erwähnte Beispiel des Russischen als Herkunftssprache in Deutschland.
Muttersprache dagegen ist ein alltagssprachlicher Begriff, der nicht direkt definiert ist, so dass verschiedene Menschen unterschiedliche Dinge darunter verstehen können. Für die einen ist es die Sprache, die sie am besten beherrschen, für die anderen die Sprache, die sie am liebsten sprechen oder mit deren Sprecherinnen und Sprechern sie sich stärker identifizieren. Für wieder andere ist es die zuerst erworbene oder tatsächlich die von der Mutter gelernte Sprache, wobei „Muttersprache“ interessanterweise in anderen Sprachen auch „Vatersprache“, „Sprache des Vaterlandes“ oder „Heimatsprache“ heißt.
Was jemand als seine Muttersprache bezeichnet, ist also bis zu einem gewissen Grad recht individuell und subjektiv. In der Mehrsprachigkeitsforschung vermeidet man diesen Begriff daher, weil man Phänomene, die man untersucht, von anderen Erscheinungen abgrenzen möchte. Wenn Herkunftssprecherinnen und -sprecher sich selbst als MuttersprachlerIn bezeichnen, ist das in Ordnung, weil sie sich mit der Sprache verbunden fühlen. Gleichzeitig weckt die Bezeichnung MuttersprachlerIn bei den meisten Menschen die Erwartung an sehr hohe sprachliche Kompetenzen. Diese Erwartungen werden enttäuscht, wenn man feststellt, dass eine Person in der Herkunftssprache nur wenig lesen und schreiben kann. So kann es zu Stigmatisierungen kommen – ein Grund, weshalb man vorsichtig mit der Fremdzuschreibung MuttersprachlerIn sein sollte.

Bilinguale Jugendliche weisen in ihrer Herkunftssprache im Bereich der gesprochenen Sprache große Kenntnisse auf, schriftlich zeigen sie jedoch oft Schwächen. Was können Eltern dagegen tun, dass ihre Kinder die Herkunftssprache verlernen? 

In erster Linie sollten sie die Sprache zu Hause weiter als Familiensprache pflegen, denn oft stellt die Kernfamilie den einzigen stabilen Kontakt zur Herkunftssprache dar. Das verlangt von den Eltern Beharrlichkeit und Konsequenz, denn für die Jugendlichen ist es meist einfacher, ins Deutsche zu wechseln. Falls die Möglichkeit zu Reisen ins Herkunftsland bestehen, profitieren die Kinder sprachlich sehr davon. Heute lassen sich die Beziehungen zu anderen Familienmitgliedern, zum Beispiel den Großeltern im Herkunftsland, zusätzlich über digitale Medien pflegen. Sehr hilfreich ist zudem Unterricht in der Herkunftssprache. Hier werden die Kinder in der Herkunftssprache alphabetisiert, lernen lesen und schreiben und wenden die Sprache in einem weiteren Kontext außerhalb der Familie an. Herkunftssprachlicher Unterricht findet oft zusätzlich nach einem langen Unterrichtstag statt, ist nicht notenrelevant und hat daher ein geringeres Prestige als regulärer Fremdsprachenunterricht in der Schule. Deshalb kostet es Eltern viel Kraft und Ausdauer, ihre Kinder zum regelmäßigen Besuch dieses Unterrichts zu motivieren.

Und wenn die Herkunftssprache in der Familie nicht durchgehend gesprochen wird?

Dass die Herkunftssprache weiterhin in der Familie gesprochen wird, ist Voraussetzung für ihren Erhalt. Wenn eine Sprache nicht benutzt wird, rostet sie schnell ein. Man beginnt, die Sprache zu vergessen. Wir haben an unserem Institut einige Studierende, die mit Russisch oder Polnisch als Herkunftssprache aufgewachsen sind, als Jugendliche aufgehört haben sie zu benutzen, und das Studium zum Anlass nehmen, sich mit ihren Wurzeln zu beschäftigen und ihre Herkunftssprache wieder (neu) zu erlernen.

Ab wann treten bilingual aufwachsende Kinder und Jugendliche mit einer weiteren Sprache in Kontakt? Und ist es Voraussetzung, dass die Herkunftssprache in der Familie weiter durchgehend gesprochen wird ?

Je nach Familienkonstellation können Kinder von Geburt an Kontakt zu zwei oder gar mehr Sprachen haben oder spätestens dann ab Eintritt in die Bildungsinstitutionen Kita und Schule. Die erste Fremdsprache Englisch ist für bilinguale Kinder dann bereits die dritte Sprache; meist kommen noch weitere Fremdsprachen hinzu.

Fällt es bilingual aufgewachsenen Jugendlichen eigentlich leichter, weitere Fremdsprachen zu erlernen?

In unserem Langzeitprojekt mit polnisch- und russischsprachigen Familien sind wir von dieser Hypothese ausgegangen. Wir haben die bilingualen Jugendlichen während der Sekundarstufe I über einen Zeitraum von vier Jahren untersucht, nachdem diese im Alter von 12 Jahren begonnen hatten, ihre zweite Fremdsprache zu lernen. Vorteile beim Fremdsprachenlernen hatten diejenigen Jugendlichen, die in ihrer Herkunftssprache früh alphabetisiert wurden, über mehrere Jahre hinweg kontinuierlich Unterricht in der Herkunftssprache besucht und herkunftssprachliche Kompetenzen auf einem hohen Niveau ausgeprägt hatten. Diese Jugendlichen haben gern und erfolgreich Fremdsprachen gelernt, hatten zum Ende des Projekts (im Alter von 16 Jahren) bis zu fünf Sprachen in ihrem Repertoire und haben in den Interviews erzählt, welche Sprachen sie gern noch lernen möchten. Diejenigen, die in der Erstsprache kaum gelesen und geschrieben haben, hatten insgesamt auch geringere herkunftssprachliche Kenntnisse und ihnen fiel das Erlernen weiterer Fremdsprachen nicht ganz so leicht. 

Sind Jugendliche aufgrund ihrer Entwicklung überhaupt schon in der Lage, Sprache zu systematisieren?

Kognitiv sind sie dazu auf jeden Fall fähig. Bei unseren Interviews haben wir festgestellt, dass einige Jugendliche von sich aus zwischen ihren Sprachen vergleichen. Damit das systematisch erfolgen kann, müssten sie darin in der Schule jedoch noch viel mehr durch entdeckendes Lernen und entsprechende Sprachvergleiche angeregt und unterstützt werden.

Was sind Ihrer Einschätzung nach die größten Vorteile, wenn Kinder und Jugendliche bilingual aufwachsen?

Menschen, die mit zwei oder mehr Sprachen aufwachsen, können leichter in verschiedene Kulturen eintauchen, andere Sprachen und Traditionen wertschätzen und tragen damit zu einer weltoffenen Gesellschaft bei. Wenn beide Sprachen entsprechend gefördert werden, bieten sich breitere berufliche Perspektiven und ein größeres kulturelles Kapital.
 

Grit Mehlhorn ist Professorin für Didaktik der slavischen Sprachen (Polnisch, Russisch, Tschechisch) am Institut für Slavistik der Universität Leipzig. Sie hat im Rahmen eines BMBF-Verbundprojekts gemeinsam mit Prof. Dr. Bernhard Brehmer (Universität Konstanz) in einer Langzeitstudie bilinguale Jugendliche in russisch- und polnischsprachigen Familien in Berlin, Hamburg und Leipzig in Bezug auf ihre sprachlichen Kompetenzen in der Herkunftssprache und im Deutschen, ihren Sprachgebrauch sowie Einstellungen zu ihrer Mehrsprachigkeit untersucht.