Welche Forschungsergebnisse existieren bereits zum Thema kultureller Bildung in ländlichen Räumen? Und unter welchen Gesichtspunkten kann man diese Ergebnisse zusammenfassen?
Mit diesen Fragen beschäftigten sich Martin Büdel und Nina Kolleck. Sie untersuchten für ihren systematischen Review „Rahmenbedingungen und Herausforderungen kultureller Bildung in ländlichen Räumen“ mehr als 270 deutschsprachige Publikationen, besonders zu den kommunal- und kulturpolitischen Bedingungen, den (infra-)strukturellen Faktoren sowie den kulturellen und gesellschaftlichen Dimensionen kultureller Bildung in ländlichen Räumen.
Ein systematisches Review bzw. ein systematischer Literaturüberblick ist ein eine strukturierte Methode zur Zusammenfassung und Analyse von wissenschaftlicher Literatur zu einem spezifischen Forschungsthema. Ziel ist es, relevante Studien zu identifizieren, zu bewerten und die Ergebnisse systematisch zu präsentieren. Durch diese Methode wird der aktuelle Forschungsstand zum Forschungsthema darstellt. Dies ermöglicht dann gezielte neue Forschung zu planen und praxisrelevante Schlussfolgerungen zu ziehen, die über einzelne Studien hinausgehen.
Die Forschung in diesem Bereich zeigt zunächst, wie kulturelle Bildung einen nachhaltigen Einfluss auf das Leben und die Gesellschaft in ländlichen Regionen ausüben kann. Gleichzeitig beschäftigt sich die Wissenschaft auch mit den vielfältigen Herausforderungen, denen die kulturelle Bildung in ländlichen Gebieten gegenübersteht. Dazu zählen begrenzte Ressourcen, Einschränkungen beim Zugang zu Bildungsangeboten sowie die Notwendigkeit, innovative Ansätze zu entwickeln, um das kulturelle Leben zu bereichern und zu fördern—nicht zuletzt auch während einer Pandemie.
Welche grundlegenden Erkenntnisse gehen also aus dem Review hervor?
1. Es gibt pauschale Vorstellungen von ländlichen Räumen.
Ländliche Räume stehen oft im Schatten der städtischen Zentren, wenn es um kulturelle Bildung geht. Pauschale Vorstellungen von ländlichen Räumen als kulturell defizitär oder idyllisch erschweren eine realistische Betrachtung der Bedingungen, unter denen kulturelle Bildung in ländlichen Räumen stattfindet. Wer erfolgreich kulturelle Bildung in ländlichen Räumen gestalten will, muss sich kritisch mit solchen Zuschreibungen auseinandersetzen.
2. Kulturelle Bildung befähigt zur Mitgestaltung der Lebenswelt.
Kulturelle Bildung wird in dem Review als Prozess der Befähigung zur selbstbestimmten Mitgestaltung und Prägung der eigenen Lebenswelt verstanden. Dabei spielen verschiedene Ansätze eine Rolle, wie kunstpädagogische Vermittlungsformen, allgemeine Bildung und die Entfaltung menschlicher Fähigkeiten sowie die Bewahrung und Vielfalt des kulturellen Erbes.
3. Die wissenschaftlichen Interessen und Forschungsschwerpunkte verschieben sich
In den 1980ern- und 1990er-Jahren gab es ein verstärktes Interesse an kultureller Bildung in ländlichen Räumen. In den frühen 2000ern ließ dieses Interesse wieder nach. Aktuell erlebte die Forschung zu kultureller Bildung in ländlichen Räumen wieder einen Aufschwung, zum Beispiel durch die BMBF-Förderrichtlinie zu diesem Thema. Forschungsschwerpunkte liegen vor allem auf kulturpolitischen Interventionen und förderpolitischen Fragen, während die empirische Forschung zu kultureller Bildung im engeren Sinne noch begrenzt ist. Außerdem gibt es deutlich mehr Erfahrungsberichte über einzelne Bildungs- und Kulturprojekte als systematische empirische Forschung zu kultureller Bildung im ländlichen Raum oder im Vergleich von Land und Stadt.
4. Es gibt noch größere Forschungslücken und viele praktische Herausforderungen
Das Review zeigt, dass es in der Forschung noch Lücken gibt. Eine gezielte Auseinandersetzung mit der konkreten Gestaltung kultureller Bildungsangebote sowie regionalspezifische Untersuchungen zu praxisbezogenen Problemstellungen in ländlichen Räumen sind notwendig. Ebenso fehlt es an Forschung zu den Bedingungen und Konflikten scheiternder Projekte und Initiativen, die wertvolle Erkenntnisse liefern könnten. Häufig wird nach Erfolgsfaktoren gesucht oder erfolgreiche Einzelprojekte beschrieben. Auch Beiträge zu informellen Orten und Gelegenheiten kultureller Bildung sowie qualitative Untersuchungen von Bildungsprozessen in soziokulturellen Kontexten werden noch zu wenig berücksichtigt. Hier gibt es vermutlich große Unterschiede sowohl zwischen Stadt und Land als auch zwischen verschiedenen ländlichen Räumen, die zukünftig verstärkt erforscht werden könnten.
Neben diesen Erkenntnissen wurden im Review auch vielfältige Empfehlungen für Akteur*innen aus der Praxis formuliert. Hier eine Auswahl:
1. Akteure der kulturellen Bildung sollten den gesellschaftlichen und technologischen Wandel immer schon mitdenken.
Um den Herausforderungen des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandels in ländlichen Regionen zu begegnen, ist eine kritische Reflexion notwendig. Kulturellen Bildungseinrichtungen und Praxisakteuer*innen sollten vorhersehbaren, aber auch den unvorhergesehenen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandel flexibel in ihre Planungen einbeziehen.
2. Modellprojekte sollten systematisch durch Begleitforschung unterstützt werden
Begleitforschung kann Modellprojekten dabei, helfen sich gezielt an Veränderungsprozesse anzupassen. Eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Forschung und Praxis kann hier wertvolle Erkenntnisse liefern, auch dann, wenn das Modellprojekt scheitert.
3. Im ländlichen Raum sind generationsübergreifende Angebote kultureller Bildung besonders wichtig.
Um eine breite Teilnahme an Kultureller Bildung zu fördern, sollten Bildungsangebote verstärkt generationsübergreifend gestaltet werden. Musik- und Traditionsvereine können dabei eine wichtige Rolle als Knotenpunkte für Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen spielen.
4. Interkommunale Vernetzung und Zusammenarbeit sind im ländlichen Raum eine zentrale Bindingung für erfolgreiche kulturelle Bildung.
Die kommunale Ebene spielt eine entscheidende Rolle bei der nachhaltigen Gestaltung der Rahmenbedingungen für Kulturelle Bildung. Eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen kulturpolitischen Ebenen und der kommunalen Steuerung ist notwendig. Fehlende finanzielle Unterstützung führt zu einem Rückgang an freier Kulturarbeit. Zudem sollten interkommunale oder regionale Vernetzung und Ressourcenbündelung gefördert werden, um die kulturelle Bildung flächendeckend zu stärken. Da es im ländlichen Raum häufig nur wenige zentrale Orte für kulturelle Bildung gibt, ist Mobilität auch über Gemeinde- oder Kreisgrenzen hinweg wichtig.
5. Dezentrale und digitale Angebote sollten gestärkt werden.
Angesichts der sinkenden Wahrscheinlichkeit einer Teilnahme an kulturellen Bildungsangeboten mit zunehmender Entfernung ist es wichtig, dezentrale oder mobile Angebote in ländlichen Gebieten zu etablieren. Die Digitalisierung kann dazu beitragen, Defizite in Schulen und anderen Kultur- und Bildungseinrichtungen auszugleichen und die Qualität von Bildungsangeboten zu steigern.
6. Ehrenamtliches Engagement braucht Wertschätzung, weil ohne diese Engagement nachhaltige kulturelle Bildung im ländlichen Raum schwierig ist.
Im Anbetracht knapper finanzieller Mittel in Kommunen und Landkreisen spielt ehrenamtliches Engagement eine bedeutende Rolle für kulturelle Bildungsangebote in ländlichen Regionen. Dieses Engagement sollte entsprechend gewürdigt und gefördert werden.
Insgesamt verdeutlicht der systematische Literaturüberblick die Relevanz und die vielfältigen Herausforderungen Kultureller Bildung in ländlichen Räumen. Mit gezielter Forschung, einer kritischen Reflexion und einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen Forschung und Praxis können die Bedingungen für kulturelle Bildung in ländlichen Räumen verbessert und die Potentiale weiter ausgeschöpft werden.
Das gesamte Review finden Sie frei zugänglich unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s11618-023-01144-0