Pressemitteilung 2022/063 vom

Die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland über einen Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen gestalten sich weiterhin schwierig. Wie fanden frühere Kriege in Europa ein Ende und was hat dazu beigetragen? Das analysiert der Historiker Prof. Dr. Stefan Rohdewald vom Historischen Seminar der Universität Leipzig. Er hat seit 2020 den Lehrstuhl für Ost- und Südosteuropäische Geschichte in Leipzig inne und forscht zur Verflechtungsgeschichte des östlichen Europa und des Nahen Ostens.

In der vergangenen Woche gab es neue Verhandlungen in der Türkei zwischen Russland und der Ukraine. Wie könnte eine Einigung, ein Ende des Krieges, aus historischer Perspektive aussehen?

Aus historischer Perspektive sind Friedensverträge dann erfolgreich, wenn beide Seiten auch das Interesse an einem Frieden haben. Das setzt voraus, dass beide Seiten zustimmen – auch die Präsidenten. Mit den Minsker Abkommen gab es 2014/2015 eine Regelung, die von allen Seiten gebrochen wurde und deren Umsetzung große Probleme aufwarf: Wahlen und ein Sonderstatus für Donezk und Luhansk wären für die Ukraine nur nach dem Abzug der dort seit 2014 versteckt aktiven Streitkräfte Russlands und nach einer Entmachtung der Separatistenregime akzeptabel gewesen. Es hätte sonst keine Garantie gegeben, dass dort dann tatsächlich freie Wahlen stattgefunden hätten. Die Ukraine hatte Angst, dass das Personal, die Beamten, die Polizei, die lokalen Truppen der seit 2014 eingerichteten illegitimen "Volksrepubliken" einfach Teil der ukrainischen Verwaltung geworden wären. Das hätte die Ukraine massiv destabilisiert. Seit dem 24. Februar hat der Krieg Russlands gegen die Ukraine mit dem großflächigen Angriffskrieg eine ganz neue Dimension angenommen. Selbst wenn sich die russischen Streitkräfte angesichts ihres vielerorts offensichtlichen Scheiterns jetzt auf die Linien von vor diesem Datum zurückziehen würden, bestehen die seit 2014 von Putin geschaffenen Probleme weiterhin: Russland weigert sich, die Annexion der Krim auch nur formal etwa wie durch die Ukraine vorgeschlagen im Rahmen eines Moratoriums zurückzunehmen oder die kürzliche Anerkennung der Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken zu revidieren, was hingegen für die Ukraine inakzeptabel ist. Im Gegenteil versucht Putin jetzt, die Gebiete innerhalb der Verwaltungsgrenzen der Provinzen Donezk und Luhansk zu erobern und den Landkorridor zur Krim zu konsolidieren, möglicherweise auch durch die Einrichtung weiterer Volksrepubliken. Ohne deutlich stärkeren Druck auch durch wirklich wirkungsvolle internationale Sanktionen wird hier ein Sinneswandel Putins leider sehr unwahrscheinlich bleiben, eher droht die Annexion aller dieser Gebiete.

Ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine mit den Kriegen etwa in Tschetschenien oder Bosnien in einer Form vergleichbar? 

Auf unterschiedlichen Ebenen sind die Kriege vergleichbar. Vorausschicken muss ich aber, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine zu einer anderen Liga von Krieg zählt. Vergleichsfälle wären hier eher die großflächigen Überfallskriege im Zweiten Weltkrieg 1939 und 1941. In der Anwendung der Strategie der Zerstörung von Städten kann man den Krieg Russlands gegen die Ukraine mit den beiden Tschetschenienkriegen vergleichen. Die Bilder aus Grosny, das jahrelang durch die russischen Streitkräfte beschossen wurde, bis kein Gebäude mehr stand, gleichen den Berichten und Bildern aus Mariupol und Butscha. Auch Tschernihiw und Charkiw stehen unter anhaltenden Bombardements. Erinnern wir uns an den Stadtkrieg in Syrien: In Aleppo sah die Strategie auch der syrischen Regierung und der dort seit 2015 tätigen russischen Streitkräfte während der brutalen Zerstörung von Stadtvierteln immer wieder Verhandlungen über humanitäre Korridore vor, die häufig gebrochen wurden. Diese dienten dann als ein Feigenblatt gegenüber der Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit, um den Anschein zu erwecken, als ob man sich um Frieden bemühen würde.

Im Bosnienkrieg wurde Sarajewo 44 Monate lang beschossen. Auch hier gab es an der Fläche des Landes gemessen sehr viele Todesopfer und sehr hohe Flüchtlingszahlen. Erst diese haben dann eigentlich auch die EU dazu gebracht, stärkere Maßnahmen einzuleiten und sich stärker zu engagieren. Dieser äußere Druck war entscheidend für den Friedensschluss in Bosnien-Herzegowina: Die Intervention von EU und NATO erzeugten ein Machtgleichgewicht zwischen den serbischen und kroatisch-muslimischen Kräften, sodass ein Frieden möglich wurde. Für dieses Abkommen von Dayton hatte man die politischen Führer der Kriegsparteien an dem Verhandlungsort in den USA quasi eingeschlossen und sie vor die Aufgabe gestellt, sich zu einigen mit Vorschlägen, die gemacht wurden. Von diesem Punkt einer Einigung sehe ich Russland und die Ukraine aber noch weit entfernt.

Im Osten der Ukraine herrscht seit 2014 Krieg. Haben wir dort zu wenig hingesehen?

In Deutschland hat man betont, dass man mit den Minsker Abkommen alles getan hat, was Deutschland in seiner Vermittlerrolle tun konnte. Insgesamt ist die internationale Gemeinschaft und damit auch Deutschland über die Annexion der Krim zu schnell hinweg gegangen. Eine solche offensichtliche Annexion einer Provinz eines Nachbarstaates hat es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben, das hat man als Kavaliersdelikt durchgehen lassen. Es gelten zwar seit damals auch Sanktionen, aber die waren eher zahnlos und richteten sich nicht gegen die für den russischen Staatshaushalt und damit das Militärbudget entscheidend wichtigen Rohstoffexporte. Ein Fehler Deutschlands war es insbesondere, nach diesen Ereignissen Nord Stream 2 weiter zu planen und dann zu bauen. Damit hat man sich in einer unerträglichen Weise abhängig gemacht von russischen Energielieferungen. Man dachte, so könnte man auch den Lieferer kontrollieren. Doch das erweist sich jetzt als Trugschluss. Es gab von Anfang an Kritik gegen diese Politik sowohl innerhalb Deutschlands als auch außerhalb von Polen, Litauen, Estland, Lettland und auch in anderen Mitgliedsstaaten der EU. Seit 2014 gibt es ein Papier der Europäischen Kommission, in dem diese eine europäische Energie-Sicherheitspolitik verlangt und eine ausdrückliche Reduktion von Abhängigkeiten explizit gegenüber Russland. Dennoch hat die deutsche Regierung weiterhin vermeintliche deutsche Interessen auch noch als europäische Interessen bezeichnet. Tatsächlich hat sich Deutschland seither in der EU isoliert und, wie seit langem und zu Recht befürchtet, schließlich durch Russland erpressbar gemacht: Die aktuelle Regierung verweigert ja heute gerade wegen dieser selbstverschuldeten Abhängigkeit wirkungsvolle Sanktionen gegen Russland im Energiesektor.

Sie haben gesagt, Russland verfolge eine neoimperialistische Politik. Wie passt der aktuelle Krieg da hinein?

Aus Sicht Russlands hat sich die linksufrige Ukraine im 17. Jahrhundert unter den Schutz der Zaren gestellt. Die Grenzen, die zwischen Russland und der Ukraine völkerrechtlich weiter bestehen, sind die Grenzen Russlands mit Polen-Litauen vor der Mitte des 17. Jahrhunderts. Aus russischer, imperialer Sicht sind das alles verlorene Territorien, die man zurückgewinnen will, genauso wie das Baltikum, letztlich auch Zentralasien, Belarus oder den Kaukasus – das alles waren Teile des Russischen Imperiums. Die auf diesen Gebieten jetzt bestehenden Staaten hält Putin für illegitim, insbesondere, wenn sie wie die Ukraine und anders als Russland demokratisch regiert sind. Dieses autokratische Russische Imperium ist in den Texten Putins von zentraler Bedeutung. Er beruft sich zudem auf Jalta, und damit auf die Teilung Europas zwischen den Siegermächten in Einflusssphären, auch das ist imperiale Politik. Sie wurde mit großer Mühe und auch unter Mitwirkung der Sowjetunion und später Russlands abgelöst durch die KSZE und OSZE, d.h. durch eine im Völkerrecht begründete, seit 1991 demokratisch legitimierte Argumentation. Alle Grenzen Europas sind künstlich, es gibt keine seit Ewigkeiten bestehenden und schon gar nicht ethnisch homogene Bevölkerungen nationaler Art in Europa. Unsere heutigen Grenzen sind Resultate von Kriegen. Sie stehen dann zur Diskussion, wenn jemand eine dieser Grenzen einseitig und ungestraft verändern kann. Das ist eine imperiale Logik des 18. und 19. Jahrhunderts, die man mit völkerrechtlichen Regeln eigentlich überwinden wollte. Dabei ist es aus völkerrechtlicher Sicht völlig irrelevant, wie alt ein Staat ist. Es geht nur darum, dass er von der Staatengemeinschaft in seinen Grenzen anerkannt ist: sobald das zutrifft, sind diese Grenzen sakrosankt. In dieser Logik sind alle Staaten gleichberechtigt, Russland und Estland oder eben die Ukraine: Kein Staat hat ein Anrecht auf Gebiete jenseits der bestehenden Grenzen. Auf diesem Prinzip ist die europäische Friedensordnung aufgebaut, gegen die die Russische Föderation in Transnistrien, Georgien (Abchasien und Südossetien) und in der Ukraine seit Jahren verstößt, ja immer drastischer gegen sie vorgeht.