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Universität Leipzig

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Über 40 Jahre in der Platte

Ein Bericht von Dr. Rolf Beyer, Leipzig

Heute kann ich sagen, wir waren Glückspilze. Als meine Frau und ich im Sommer 1961 heirateten, bezogen wir bereits nach wenigen Monaten eine Neubauwohnung in der wir noch heute wohnen und uns wohl fühlen. Aber wie war das unter den damaligen Bedingungen möglich?

Die Situation war schlimm. Im Krieg wurde auch in Leipzig ein Großteil des Wohnraums zerstört. Der Wiederaufbau bedurfte Jahrzehnte. Hinzu kam, dass im Laufe der Zeit die Ansprüche an den Wohnraum wuchsen. Das erforderte auch eine Sanierung des nicht zerstörten Wohnraums. Erinnert sei nur an die Verlegung der Toiletten von der halben Treppe in die Wohnungen, Umstellung der Küchenherde von Kohle auf Elektroenergie bzw. Gas, ersetzen der einfachen Fenster durch Doppelfenster, Umstellung von Kohle- auf Zentralheizung, warmes Wasser muss nicht mehr selbst auf dem Herd warm gemacht werden sondern kommt aus der Leitung usw.

In der DDR und somit auch in Leipzig waren fehlende Wohnungen ein Dauerproblem. Die langen Wartezeiten beschäftigten, von den Bürgern bis zu den höchsten staatlichen Stellen, ständig „ganze Völkerscharen“. Es wurden zwar viele neue Wohnungen gebaut, aber meist auf der „grünen Wiese“, da sich dort neue Plattenbauten schnell hochziehen ließen. Bei der Instandhaltung und Modernisierung der Altbauten in den Zentren der Städte tat sich nur wenig. So verfiel etwa ab Ende der 70er Jahre jährlich mehr Wohnraum als neuer gebaut wurde.

Die in der DDR geschaffenen volkseigenen Betriebe hatten zu Anfang keine Möglichkeit ihren Mitarbeitern bei der Beschaffung von Wohnraum behilflich zu sein. Die Eigentümer der Wohnhäuser waren Privatpersonen oder die städtische Gebäudewirtschaft. Auf diese hatten aber die Betriebe keinen Einfluss. Das war der Auslöser dafür, dass die Betriebe Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaften (AWG`s) gründen konnten.

Diese bauten Wohnungen für die Arbeiter und Angestellten der entsprechenden Betriebe (Wirtschaftsbereiche wie Transport, Energie, Post usw.). Jeder Mitarbeiter, der in eine AWG eintrat und eine Wohnung haben wollte, musste einen einmaligen Genossenschaftsanteil zahlen (in unserer AWG 2.100,- Mark) und eine bestimmte Anzahl von Arbeitsstunden beim Aufbau der Wohnhäuser leisten (in unserer AWG 800 Stunden). Die Betriebe unterstützten ihre AWG entsprechend ihrer Möglichkeiten sowohl finanziell, als auch mit Arbeitskräften, Werkzeugen, Maschinen und Material.

Als die AWG`s entstanden, war ich in einem Verlag tätig. Bei uns wurde die AWG Polygraphie gegründet, die für die Leipziger Verlage und Druckereien zuständig war. Zwei meiner Kollegen brauchten dringend eine Wohnung und traten sofort ein. Ich war Single und wohnte möbliert. An einer eigenen Wohnung hatte ich damals kein Interesse. Unsere neue AWG benötigte aber, um wirksam zu werden, eine bestimmte Mindestmitgliederzahl. Diese war aber noch nicht vorhanden. So „bearbeiteten“ mich meine beiden Kollegen bis ich 1958 meinen Eintritt erklärte. So hatte ich eine ziemlich niedrige Mitgliedsnummer. Die 2.100,- Mark Genossenschaftsanteil begann ich in Raten monatlich abzuzahlen und betrachtete dies als eine Form des Sparens. So verging die Zeit.

Wie das Leben so spielt, ich lernte meine Frau kennen und irgendwann stand für uns die Frage der Hochzeit. So aktivierte ich meine Mitgliedschaft bei der AWG und begann mit den Arbeitsstunden. Das waren teilweise schwere körperliche Arbeiten. Die AWG verfügte nach ihrer Gründung nur über wenige Maschinen. So mussten wir die Gruben für die Keller mit Spitzhacke, Schippe, Schubkarre und Förderband ausheben. Wurde der Keller noch von Maurern Stein für Stein hochgezogen, ging das Hinstellen des Hauses mit Hilfe von vorgefertigten Platten ruckzuck. Dann kamen die Handwerker für den Innenausbau und anschließend für uns Mitglieder die Grobreinigung. Wir machten aber auch Hilfsarbeiten bei den einzelnen Gewerken, soweit das für Nichtfachleute möglich war. Da die Bewerber für eine Wohnung fast alle noch jung waren, griffen sie überall kräftig zu. Außerdem blühte oft der Flachs und eine Flasche Bier löschte auch manchmal den Durst.

Ein Problem gab es überall wo Plattenbauten fertig wurden, somit auch bei uns. Die Häuser wurden sehr schnell gebaut. Was immer hinterherhinkte war der Bau der Straßen und Wege. Da es ja mal regnen konnte, gehörten deshalb Gummistiefel beim Einzug in die neue Wohnung zur Grundausstattung.

Die Zahl 800 Arbeitsstunden für jeden Mieter lässt sich schnell aussprechen, man merkt aber bald wie viel das sind, wenn man am Wochenende einen ganzen Tag gearbeitet hat und dafür 8 Stunden gut geschrieben bekommt. Da ich neben meiner beruflichen Tätigkeit auch noch viel Zeit für mein Fernstudium aufwenden musste, war ich ständig in Zeitnot. Auf Antrag erhielt ich deshalb die Genehmigung, einen Teil der Stunden zu bezahlen. Je Stunde wurden allen „Bezahlern“ 1,50 Mark berechnet.

Da die Vergabe der Wohnungen nach dem Eintrittstermin und somit der Mitgliedsnummer erfolgte, gehörten wir zu den Mitgliedern, die sehr bald mit einer Wohnung rechnen konnten. So war es möglich, unsere Hochzeit mit dem Einzug in die neue Wohnung terminlich gut abzustimmen. Das Glück hatten aber nicht viele. Nachdem sich herum gesprochen hatte, dass die AWG eine gute Sache ist, ergab sich ein toller Zulauf. Die Mitgliederzahl stieg bei uns von etwa 200 im Jahr 1958 auf fast 6.000 im Jahr 1981. Zwischenzeitlich gab es von Zeit zu Zeit sogar Aufnahmesperren. Das Ziel war, dass die Zeit von der Aufnahme als Mitglied der AWG, bis zur Bereitstellung einer Wohnung, nicht all zu groß wurde.

Jedes Jahr führte unsere AWG eine große Versammlung durch. Dort wurde über die nächsten Bauvorhaben berichtet und die demnächst fertig werdenden Wohnungen an die Mitglieder vergeben. Das war eine spannende Sache. Die Vergabe erfolgte zwar ohne Ausnahme nach der Reihenfolge des Eintritts, aber es gab noch einen Haken. Die Größe der Wohnung richtete sich nach der Personenzahl. Nicht berücksichtigt wurde, dass bei jungen Paaren – und das waren wir fast alle – wenn nicht schon vorhanden, sich in der Regel aber bald Nachwuchs einstellte.

Meine Frau und ich erhielten, da ohne Kinder, eine 2 ½ Zimmerwohnung mit 60 qm Wohnfläche. In dieser wurden dann später auch unsere zwei Kinder mit groß. Das halbe Zimmer wurde Kinderzimmer mit Doppelstockbett und „Arbeitsplatz“ für den Sohn. Unsere Tochter erhielt im Schlafzimmer einen Schreibtisch, an dem sie in Ruhe ihre Schularbeiten usw. machen konnte. Mein Schreibtisch, an dem auch meine Frau ihre Arbeiten erledigte, fand in einer Ecke des Wohnzimmers seinen Platz. So war es zwar sehr eng, aber es ging bei uns harmonisch zu und wir vier waren zufrieden. Nachdem unsere Kinder groß und „ausgeflogen“ sind, haben wir unsere Wohnung nun wieder zu zweit.

Doch zurück zu dem Tag, an dem wir unsere Wohnung erhielten. Auf der Bühne des Saales, in dem unsere Versammlung stattfand, hatte der Vorstand große Schautafeln aufgestellt. Auf diesen wurden die fertig werdenden einzelnen Häuser mit den darin befindlichen Wohnungen dargestellt. Obwohl wir uns alle Objekte vorher im Original angesehen hatten, wurden noch einmal der Standort, die Wohnungsgrößen usw. erläutert. Und dann ging es los. Die Mitglieder wurden, ausgehend von ihrer Mitgliedsnummer, der Reihe nach auf die Bühne gebeten und konnten sich dort ihre Wohnung aussuchen. Je früher man dran war, je mehr Möglichkeiten gab es. Wir hatten uns eine Wohnung im ersten Stock in der Mitte unseres heutigen Hauses vorgestellt. Aber der erste Stock war schnell weg, so dass wir uns für den zweiten Stock entschieden.

Als wir wieder saßen gab es von uns allen einen Lacher, der das dortige Gebäude erschütterte und den ich nie vergessen werde. Auf der Bühne wollte ein Mitglied eine größere Wohnung haben als ihm zustand. Er feilschte und feilschte. Es ging hin und her. Ihm wurde gesagt, wenn sie zwei Kinder hätten wäre das kein Problem. Er sah seine Felle wegschwimmen und rief plötzlich lautstark in den Saal: „Sie sind alle meine Zeugen, zwei Kinder kein Problem, ich verpflichte mich!“

Auch der Vorstand musste herzlich lachen, aber geholfen hat es nicht.

(Zur Erinnerung, es war die Zeit, in der immer wieder aufgerufen wurde persönliche oder kollektive Verpflichtungen abzugeben, um Planziele zu erreichen usw.).

Ob die damalige Festlegung, die Wohnungsgröße richtet sich nach der Personenzahl zum Zeitpunkt der Vergabe, richtig war, oder ob man auf die Wünsche mit der Begründung „Kinder“ hätte eingehen sollen, lässt sich auch aus heutiger Sicht schwer beantworten. Man muss bedenken, viele Menschen benötigten Wohnraum aber die Miete war spottbillig und deshalb kein Instrument zur Regulierung. Fakt war, wer noch lange auf eigenen Wohnraum warten musste sah die Festlegung zur Vergabe anders als derjenige, der sich gerade eine Wohnung aussuchen konnte.

Die Miete für unsere 2 ½ Zimmer mit Bad, Diele, Küche mit Einbaumöbeln sowie Zentralheizung und Durchlauferhitzer (zur Erzeugung von Warmwasser mit Gas) betrug ab 1961 zusammen 54,- Mark. Ab dem 15.06.1965 bezahlten wir 55,70 Mark. Warum wir 1,70 Mark mehr bezahlen mussten weiß ich heute nicht mehr. Die Miete blieb dann bis nach der Wende konstant.

Die gesellschaftlichen Veränderungen nach der Vereinigung Deutschlands machten auch um unsere Genossenschaft keinen Bogen. Wir schlossen uns mit einer anderen AWG zur Wohnungsgenossenschaft WG UNITAS e.G. zusammen. Für uns Mieter gab es nicht nur Mieterhöhungen sondern auch positive Veränderungen. Unser 1961 gebautes Haus wurde 1996 grundlegend saniert. Alle elektrischen Leitungen, die Wasser- und Abwasserleitungen sowie die Heizkörper einschließlich der Rohre wurden erneuert. Natürlich erhielten wir auch neue Fenster, die uns besser vor Geräuschen von außen abschirmen. Besonders günstig wirkt sich aus, dass die Außenwände mit zusätzlichen Dämmplatten versehen wurden. So ist es in der Wohnung im Sommer kühler und im Winter wärmer.

Schätzen haben wir auch gelernt, dass wir zu einer Wohnungsgenossenschaft gehören. Es ist ein Unterschied, ob ein privater Hausbesitzer das „Sagen“ hat oder ein Vorstand, der von den Mitgliedern gewählt wird.

Wir wohnen nun weit über 40 Jahre in unserer Wohnung. Von den acht Mietern, die damals in das neue Haus einzogen, sind noch immer vier da. In die anderen Wohnungen, die durch Umzug, Altersheim, Tod usw. frei wurden, sind Mieter eingezogen, die schon eine andere Wohnung in unserer Genossenschaft hatten und sich bei uns harmonisch einfügten.

An dieser Stelle noch einen Rückblick auf eine Verhaltensweise, die heute nicht mehr vorstellbar ist. Unsere Haustür und die Tür, die zu den Kellern führte, waren immer offen und jeder der wollte – auch von der Straße - hätte dort runter gehen können. Trotzdem war der Keller eines Mieters nie verschlossen. In diesem befand sich eine Hobelbank, viele Werkzeuge und Material, Gläser mit Eingemachtem (wer macht das heute noch), Kartoffeln usw. Von 1961 bis zur Wende fehlte nie ein Nagel. Dann ereichte die Kriminalität auch unsere Gegend. Wir bauten überall neue Schlösser ein und achten heute sehr genau darauf, dass immer alle Türen verschlossen sind.

Bei einem Rückblick darf aber auch folgendes nicht unerwähnt bleiben. Nach so langer Zeit können wir feststellen, dass es bei uns im Haus auch mal Meinungsverschiedenheiten gab, jedoch noch nie einen richtigen Krach. Jeder lebt zwar abgeschirmt in seiner Wohnung, aber hilfsbereite Nachbarn sind wir alle. Ist z.B. jemand im Urlaub, werden die Blumen in dessen Wohnung mit gegossen, der Briefkasten mit geleert usw. Das hat sich so entwickelt und zu einem angenehmen Klima geführt, das letztlich auch mit zur Lebensqualität gehört.

Ein gutes Klima kann man nicht künstlich erzeugen, dass muss sich im Laufe der Zeit entwickeln. Und eins darf man nicht vergessen, wir werden alle älter und da kommt der gegenseitigen Hilfe sogar noch eine erhöhte Bedeutung zu.

 



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