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Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

Berichte über Erlebnisse

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Um geschichtliche Zusammenhänge erkennbar zu machen, stellen wir den  Zeitzeugenberichten das nachfolgende „Brevier“ mit wichtigen Ereignissen aus dem vergangenen Jahrhundert voran.

Brevier zum 20. Jahrhundert

Ein Bericht von Dr. Helga Berge, Leipzig

Wenn man mehr als ein Dreiviertel dieses Jahrhunderts selbst durchlebt hat und kam im Jahr 2000 an, so ist das ein mit nicht viel Gewissheit erwartetes Geschenk.

Am besten erfreut man sich dann an jungen Menschen, denen das 21. Jahrhundert ihr Leben bedeuten wird. Und jene, die nach ihren Erfahrungen im 20. Jahrhundert mit ihnen die Schwelle überschritten, wissen wohl einiges zu berichten von  vergangenen Zeiträumen, die in ihren Auswirkungen  bis heute Bestand haben.

Nichts ist wandelbarer als Geschichtsbetrachtung. Die Standpunkte wechseln und mit ihnen die Einschätzungen der vergangenen Situationen. Dazu sagt man dann:

"Aus heutiger Sicht..."

Voller Brüche war das Leben derer, die das 20. Jahrhundert erfuhren.

 

Ein Kind wird geboren im Oktober 1899. Ein kleines Mädchen in einer Situation, in der wir jeweils alle waren: Als  Säugling - ahnungslos  - gerät es am Ende des 19. in das 20. Jahrhundert, noch völlig unwissend im angelegten Zahlen- und Terminspiel  der Erwachsenen.  Aber immerhin steht es am 1. Januar 1901 mit kleinen unsicheren Füßchen schon aufrecht im 20. Jahrhundert.

War man damals im gleichen Zweifel und Streit wie zum Jahrhundertbeginn anno „2000 oder 2001“?  Was sagten die wenigen Zeitungen dazu?

Kam man darauf zu sprechen, wenn man sich traf, - die Frauen mit einer Handarbeit, mit Sticken und Nähen beschäftigt neben den Männern, die auf alle Fälle das Sagen hatten? Die Medienlandschaft war ja noch wie eine Wüste.

Es war üblich, sonntags in die Kirche zu gehen, um dann den herausgehobenen Sonntag  weiter zu gestalten: mit einem Spaziergang der Familie in die Umgebung der Wohnstätte, gar eine Fahrt mit der Kutsche - bespannt mit Pferden - aufs Land. Die sonntägliche Muße war beschaulich vor dem Haus, im Garten, wenn man so etwas besaß in der wilhelminischen Ära, dieses Kaisers Wilhelm  II.

Die Freude der Eltern begleitete die tapsigen ersten Schritte der kleinen Erdenbürgerin in das neue Jahrhundert hinein. "Sie kann laufen!" Wohin?

 Die ehemals kleinen Füße trugen längst Erwachsenenschuhe; da war es die eigene Tochter, der die Geschichte vom "Kohlrübenwinter 1917" erzählt wurde. Diese nahm das mit ungläubig fragenden Augen auf, staunend, ohne wirkliches Begriffsvermögen: "Kohlrüben... Hunger... nicht einmal Kartoffeln?" Wie kann das sein?

Wie sollte ein Kind sich vorstellen können, was ein Krieg, - es war der 1.Weltkrieg!  - mit sich bringt?

Die Konsequenzen der Politik der Kaiserzeit sind, knallhart betrachtet, bis heute wirksam und als Negativum nicht mehr löschbar, wenn man sie so gern auch unter den Teppich kehrte.

Und  diese Tochter wurde in die Inflationszeit hineingeboren, dieses Novum, bis dahin ohne Beispiel. Sie  war  noch ein kleiner Säugling,  dem – herangewachsen - später von anderen ungeahnten, realen Auswirkungen zunächst erzählt werden musste, bis sie schließlich selbst zur noch sehr jungen Zeitgenossin der Weimarer Republik wurde, - gerade alt genug, um dabei zu sein in der wirren Zeit einer labilen, entgleisenden Demokratie, die scheiterte und in der nationalsozialistischen Diktatur endete.

Aber das war ja auch wieder erst ein Anfang!

 

Die Arbeitslosigkeit wurde beseitigt.  Um welchen Preis?  Die Rüstung, die so umfassend Beschäftigung brachte, führte in den Krieg.

"Wie konntet ihr da mitmachen?" fragten  später die Jungen die Alten, die das akzeptiert hatten.

Es sah doch erst so günstig aus!  -  Man wollte doch Arbeit haben!

Die Jungen fragen ja immer die Älteren, wie "d a s"  geschehen konnte, bis sie selbst von ihren eigenen Kindern so gefragt werden.

Angesichts offizieller Erfolge - "Kraft durch Freude" - , wie konnte ein junger Mensch, der  sich erst mit der Welt auseinandersetzen und sie erfahren wollte und musste, all das schon durchschauen?  Vorbei an jenen, die vergeblich Kassandrarufe wagten und schließlich nur noch aus dem Untergrund aufbegehren  konnten.

„Du bist nichts, Dein Volk ist alles!“– „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ –„Der Nordische Mensch“– „Die Untermenschen.“ - Rassenhygiene - Bücherverbrennungen. NSDAP, BDM, HJ, SA, SS.

Als man begriffen hatte, war es zu spät.

Die  heranwachsende Tochter erhielt in einer der "Höheren Mädchenschulen" eine solide, fundierte, humanistische Ausbildung von Lehrern, die noch in der Zeit der Weimarer Republik ausgebildet worden waren.

Wie war es möglich, dass die Inhaber eines kleinen, gut geführten Kolonialwarenladens, der Besitzer eines Textilgeschäftes eines Tages plötzlich nicht mehr anzutreffen waren? Dass in der gesamten Stadt in der "Kristallnacht" die Geschäfte jüdischer Besitzer verwüstet  wurden? Und die brennenden Synagogen, die Deportationen...

Das junge Mädchen wurde mit seinen Altersgenossinnen - nun schon im Krieg - zum RAD – dem Reichsarbeitsdienst -  nach Hinterpommern einberufen, danach zum Kriegshilfsdienst  in das Luftwaffenlazarett Berlin-Reinickendorf, vormalig Luftwaffenkaserne "Hermann Göring" kommandiert und mit der Pflege von Verwundeten betraut, den Kopfschussverletzten, den Querschnittgelähmten nach Schussverletzungen der Wirbelsäule, den nervengelähmten jungen Männern.

Der 2. Weltkrieg mit den Bombennächten... die Tötung "lebensunwerten" Lebens, die Vernichtungslager, die Toten auf den vielen Kriegsschauplätzen,

Das begonnene Studium musste im „Totalen Krieg“ abgebrochen werden:  Kriegsdienstverpflichtungen erzwangen den Einsatz in Rüstungsbetrieben.

Die verlorene Jugend.

"Heil Hitler!" ? - Nein, von diesem Hitler kam kein Heil!  Ein Volk wurde beherrscht von einem Wahnsinnigen, der es in verbrecherischer Erbärmlichkeit in den Abgrund riss.

Es folgte das Desaster des Kriegsendes,  Flüchtlinge auf den winterkalten eisigen Straßen aus den verlorenen Ostgebieten, verjagt aus den Lagern. Das besetzte besiegte Land in Trümmern, geteilt in Besatzungszonen, schließlich die Teilung Europas mit dem übergestülpten Sowjetsystem im Osten und der Herrschaft der sozialistischen Ideologie, die praktisch scheiterte, weil sie in der Realität den Menschen nicht entsprach.  

Wieder Währungsmanipulationen: 1948 Währungsreformen in West- und Ostdeutschland.

1961 die Errichtung der Mauer mit ihren Flüchtlingen und Toten...   Wieder eine Diktatur, unter anderem Vorzeichen über 40 Jahre... Es war genug!

Wirklich genug!

Das Volk steht auf... Die Hoffnungen  einer gewaltfreien Revolution... 1989 - 9. November -.

Nach vielen Jahren wird Deutschland wieder vereint als Demokratie... Und es beginnt nach hoffnungsvoller Phase der "Runden Tische" und über die "Treuhand" die Aufarbeitung der östlichen... Zustände... in Richtung US-amerikanischer, kapitalistischer Wirtschafts- Prägung, die den Westdeutschen Wohlstand gebracht  hat.  

Bedeutet das Schieflage West - Ost?  Immerhin fordert die Balance große Anstrengungen. Wieder einmal ist Arbeitslosigkeit im Spiel. Konkurrenzverhalten ist im Beitrittsgebiet fast unbekannt: Vertrautwerden mit den neuen Verhältnissen und Anforderungen ist nun angesagt.

Es gibt Zufriedenheit mit der wiedererstehenden Schönheit der ruinierten Städte und dem saturierten Konsumverlangen. Im Althergebrachten ist umzudenken und viel Neues dazu zu lernen.                                                                                    

Ist das allein von den Menschen im Osten des  wieder vereinten Landes zu fordern?

Es fällt eine wichtige Entscheidung: Berlin ist wieder Hauptstadt in der Bundesrepublik Deutschland. Die rheinische Bonner Republik wird verabschiedet.

Korruption bricht als tiefliegender, verborgener Abszess hervor, der dringend der Exzision bedarf.

Ist das nun die heiß ersehnte Freiheit? Wird überhaupt verstanden, was "Freiheit" bedeutet und fordert? Wird sie nicht viel zu oft als Willkür ohne verantwortungsvolle Rücksichtnahme missverstanden? Von einem zutiefst ungeliebten Ideologen war ehedem erklärt worden: "Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit"...

Darüber könnte man nachdenken.  

Und all das gedeiht in der vielseitig sich entwickelnden und aufwuchernden Medienlandschaft.

Blicken wir zurück zu dem kleinen Mädchen, das in der Inflationszeit zur Welt kam und die ersten Anfänge des Rundfunks erlebte. Da hörte es Musik über Kopfhörer, die an einer Schnur mit dem von seinem Vater selbst gebastelten Detektorapparat verbunden waren. Schöne Musik hörte es, nach der es tanzen wollte, und die Tränen rollten über sein kleines Gesicht, weil es sich so gefesselt sah.  "Warum weinst du?" fragte die Mutter und meinte: "Nun, tanz' doch!" Und man darf  sich vorstellen, wie die kleine Tänzerin an der Schnur des Kopfhörers zum Radiogerät hing.  ...Sie tanzte!

Welch eine Wandlung in relativ kurzer Zeit! Heute hört man über Lautsprecherboxen. - Das Fernsehen trat seinen Siegeszug an, auch die digitale Telekommunikation, ISDN, Internet, Computer und die Vollautomatisierung. Und das geschieht alles im Umfeld der fortschreitenden Globalisierung mit ihren immer dichter werdenden Verkehrsnetzen, - eine rasante Entwicklung!

 Der Wissenschaft sind ungeahnte Erkenntnisse in vielen Bereichen gelungen u.a. in der Atomenergie und Gentechnologie, der Weltraumforschung...

Dieser Ergebnisse nehmen sich u.a. die Medien Tag für Tag an, informierend, aber auch beunruhigend. Es sollte jedoch versucht werden in der alles okkupierenden Wissenschaft und Technik  das Notwendige und Zuträgliche zu betreiben und das herauszustellen. 

Wie lebt man überhaupt vor diesen Szenarien? 

Die Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten im Wesen der Menschen lässt sie sich zu allen Zeiten in den unterschiedlichsten Lebensformen arrangieren. Man passt sich an, leistet Widerstand und kann sich auch zurückziehen und sein Leben in "Nischen" verbringen. 

Und erst im Nachhinein wird erkannt, dass der  Mangel eine ungeheuer fördernde Kraft entfalten kann. Wird bei allem nur  dem Nutzen Vorrang gegeben, was darauf hinausläuft, nur der Herrschaft des Geldes zu dienen, tritt bei allem Reichtum eine Verarmung ein, die wachsend geistig wie materiell  breite Schichten im Volke einbezieht.

Das Leben hat immer zumindest zwei Ebenen: die der gesellschaftlichen Gemeinsamkeiten und darin eingeschlossen die individuelle, differenzierte Existenz. Eingebettet im persönlichen Ergehen, in Berufsleben und Familie, wird es bis heute getragen von Jahrhunderte alter Kultur, die weiter wirkt.

Neben allen hier möglichen Bestrebungen bleibt die Liebe von Mensch zu Mensch in der Vielfalt ihrer Nuancen mit Sehnsucht und Erfüllung, die in selbstloser, tiefer Zuneigung gipfeln kann. 

Und der Himmel spannt sich mit der hellen  Sonne und den Sternen über einer schönen Natur mit ihren mannigfaltigen Landschaften und den Meeren. Den Bemühungen der Menschen, zum Weltgeschehen Erklärungen zu finden und sich darzustellen, konnten die Weltreligionen und philosophischen Weltanschauungen dienen, die immer wieder in die politischen Systeme einflossen. Mit welchem Erfolg, das sei dahingestellt.

Das persönliche Leben will  ausgestattet sein im Miteinander der Menschen, im engeren Kreis oder in die Weite. Die Wiedervereinigung brachte den Ostdeutschen die Freiheit des Reisens, lange entbehrt, nun mit der Möglichkeit, aus der Enge einer Vormundschaft herauszutreten und in Begegnungen  über die einstigen Grenzen hinaus, andere Regionen, Völker und Sprachen kennen zu lernen. Welche  Bedeutung hat es, ein E u r o p ä e r  sein zu dürfen und sich gar noch über den Kontinent hinaus bewegen zu können!

Dazu ist zu bedenken, dass der Mensch in seiner Egozentrik gern vergisst, dass er mit seinem Wissen und Vermögen Schritt um Schritt seine erstaunlichen  Erkenntnisse nur den vorgegebenen Naturgesetzen abringen konnte, die wiederum "als farbiger Abglanz" das Universum ahnen lassen.

Er fühlt sich als "homo sapiens" und ist doch so oft nicht mehr als ein "homo erectus".

Beim Eintritt in das 3. Jahrtausend sollten wir uns besinnen, dass wir in der Unendlichkeit des Weltalls mit den  Sternensystemen in 100 Milliarden Galaxien mit unserem kleinen Planeten  Erde wie ein Atom im Gefüge der Schöpfung hängen.

Was ist da ein Jahrhundert, über das ein Resümee versucht wurde?

Die Antwort zur Frage, die zu selten gestellt wird, muss offen bleiben:

Das Seebeben „tsunami“ in Südostasien bringt die erschütternde Erkenntnis des Unvermögens der Menschen, Einfluss auf Naturgeschehen dieser Erde zu nehmen, auch wenn mancher selbstherrlich meint, das in seiner Hybris leugnen zu können.

Damals war kaum zu erwarten, dass auch diese Zeit schließlich wieder abgelöst werden würde...
Aber es kam wiederum anders...

 




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