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Universität Leipzig

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1968 Aufstand in Tschechien und Heimfahrt aus dem Ungarnurlaub

Ein Bericht von Kornelia Mücksch, Schkeuditz

Im Jahr 1968 verbrachten wir, wie in früheren Jahren, 3 Wochen Urlaub in der Puszta. In Erinnerung ist mir hier nur die Aufregung geblieben, als mein Vater eines Tages mit der Nachricht vom Campingchef heimkam, dass in Tschechien ein Aufstand oder eine Revolution ausgebrochen sein soll. Da wir kein Radio hatten und erst recht keine ungarische Sendung oder Zeitung verstanden, waren wir darauf angewiesen, dass uns unsere ungarischen Freunde alles Nötige erzählten. Langsam näherte sich der Termin unserer Abreise. Wir wurden immer nervöser, denn nun hieß es, dass die Grenzübergänge zu Tschechien geschlossen seien und deutsche Touristen sich in der Botschaft der DDR in Budapest erkundigen sollten, wann sie über die CSSR nach Hause fahren könnten.

Hilfsbereite Budapester

Jetzt war guter Rat teuer. Schließlich packten wir unsere Sachen ein und begaben uns nach Budapest. Ich kann heut nicht mehr sagen, wie es dazu kam, dass wir plötzlich die Bekanntschaft mit einem sehr freundlichen Ungarn machten, der uns zu sich in seine Wohnung in Budapest einlud, um hier zu warten, bis wir die Grenze passieren könnten.

Dieser Ungar hatte selbst 4 kleine Kinder und wohnte mit seiner Frau in einer kleinen Wohnung. Die Großeltern, die überall mithalfen, wohnten gleich um die Ecke. Diese Großfamilie war unglaublich nett zu uns. Sie bewirteten uns und gaben uns Quartier, obwohl sie selber sehr beengt und ärmlich lebten. Ich versuchte mich mit meinen 12 Jahren zum Dank für die Gastfreundschaft bei der Hausarbeit nützlich zu machen, aber sie lehnten immer wieder dankend ab. Es war ihnen ein Herzensbedürfnis, uns zu helfen und sie freuten sich, wenn sie uns eine Freude machen konnten. Cornel, der Mann, der übrigens wie viele Ungarn sehr gut deutsch sprechen konnte, zeigte uns in der Woche, die wir bei ihnen verbrachten, die Sehenswürdigkeiten von Budapest. Wir sahen die Margaretheninsel, die Fischerbastei, die großen Bauten und, für mich besonders eindrucksvoll, bei Nacht ein Feuerwerk, bei dem abwechselnd Gold und Silber über die Mauern einer Burg hoch über unseren Köpfen lief. Jeder Tag in Budapest war für mich ein ganz besonderes Erlebnis.

Die Fahrt durch Tschechien

Und schließlich kam die Nachricht, dass jetzt die Grenzen für uns geöffnet würden. Nach einem bewegenden Abschied von den so liebenswerten Ungarn brachen wir auf zum Abenteuer unserer Heimfahrt. An der Grenze wurden wir wie üblich kontrolliert und dann zu riesigen Konvois gesammelt. Wir waren mittendrin in der Autokarawane, die auf dem kürzesten Weg über Tschechien nach Polen fahren sollte. Wir wurden belehrt, dass wir jegliches Propagandamaterial und schlimmeres auf unserem Weg durch die CSSR ignorieren und keinesfalls in die DDR einschleusen sollten. Wir hatten im Moment aber wirklich andere Probleme. Eines davon war die Tatsache, dass wir weder eine Karte von Polen noch eine konkrete Vorstellung oder Karte von der Route hatten, die wir jetzt fahren mussten. Wir waren also in jeder Beziehung auf den Konvoi angewiesen und beteten deshalb auch, dass unser Lloyd durchhalten möge.

Da wussten wir aber noch nicht, was es bedeutet, stundenlang in einem Konvoi zu fahren, der sich immer mehr auflöste. Denn immer öfter blieben einige Autos stehen, weil sie Pannen hatten oder einfach eine Pause machen mussten. Hinten wusste Niemand, weshalb der Konvoi vorn zum Stehen kam. Und ehe wir es uns versahen, war unser Konvoi zerfleddert und wir mit einigen wenigen ebenso ratlosen Autofahrern wie wir selbst allein auf der Straße. Da hieß es nur noch, der Nase nach zu fahren und sich möglichst immer nordwestlich zu halten, um in der nächsten Stadt vielleicht wieder Anschluss an andere DDR – Heimkehrer zu finden. Und so war es dann auch.

Wir trafen immer wieder auf DDR-Bürger, die ihrerseits Hilfe suchend nach Landsleuten Ausschau hielten. Aber wir konnten nicht dauerhaft im Konvoi bleiben. Je mehr wir nach Norden kamen, desto mehr vereinzelten und verloren wir uns und desto größere Gefahren schienen außerdem in der Luft zu liegen. Uns wurden immer öfter an Staupunkten, wo Demos stattfanden, Flugblätter in deutscher Sprache ins Auto gereicht. Zugleich aber hatte sich mitunter, ehe wir das richtig bemerkten, bei dem unfreiwillig langen Warten auf das, was für uns unsichtbar vorn ablief, wieder ein DDR – Konvoi vor und hinter uns gebildet. Nun fühlten wir uns wieder etwas sicherer.

Einmal blieben wir in einer Stadt auf einem Platz stehen, weil alle Straßen mit Menschen verstopft waren. Wir stiegen aus dem Auto und kauften uns bei einem fliegenden Händler eine Wurst, denn wir hatten seit Stunden nichts mehr gegessen. Unsere Marschverpflegung, die wir aus der Puszta mit nach Budapest genommen hatten, war längst aufgezehrt. Und in Budapest waren Lebensmittel um das Mehrfache teurer als in der Provinz. Unsere letzten Forint aber mussten wir sowieso für Sprit ausgeben. So traf es sich gut, dass wir nun zum Halten gezwungen waren, weil hier eine Demo mit Volksfestcharakter abzulaufen schien und wir etwas Essbares mit Kronen bezahlen konnten.

Während wir aßen, beobachteten wir die unübersehbare Menschenmenge, die sich dort vor mindestens einem ruhig dastehenden Sowjetpanzer versammelt hatte. Neben mir weinte hemmungslos eine Frau aus der DDR, die mit ihrem Mann wohl in einem Zug Tag und Nacht in ihrem Trabi aus Bulgarien bis hierher gefahren war. Sie glaubte, dass sie nie wieder nach Hause kommen würde, denn sie war schon jetzt völlig mit den Nerven zerrüttet, übermüdet und von den Strapazen der unentwegten Fahrt erschöpft. Sie glaubte außerdem, dass man uns hier nach dem Leben trachten würde. Ich konnte sie zumindest teilweise verstehen, denn solche tagelangen Autofahrten in der Hitze und unter Stress saugten alle Kräfte auf, wenn man nicht immer wieder Ruhephasen einlegte. Aufgrund der brisanten Situation war es nun allerdings erforderlich, in einem Zug so schnell wie möglich durchzufahren. Nur war für mich das politische Brimborium um uns herum bis zu diesem Zeitpunkt noch ein interessantes Abenteuer, denn ich hatte noch nichts wirklich Bedrohliches außer dem scheinbar harmlosen Panzer und den vielen aufgeregten Leuten gesehen.

Das sollte sich aber schlagartig ändern, denn, wieder neu formiert in einem Konvoi, erlebten wir jetzt auf der Fahrt durch die Städte und Dörfer einen mir bis dahin völlig unbegreiflichen Hass der Tschechen auf uns, die freundlichen sozialistischen Nachbarn. In mir stieg eine bisher unbekannte Angst hoch, als die Steine auf unsere Autos flogen und die Leute, meist ältere Männer, uns mit geballten Fäusten hasserfüllt drohten. Die Tschechen schienen hier alle an die Straßenränder gekommen zu sein, um uns, ihre plötzlichen Todfeinde, einen unvergesslichen Spießrutenlauf fahren zu lassen. Wir fuhren jetzt tatsächlich um unser Leben. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Ich wusste nur, dass ein Stehenbleiben uns den Wüterichen ans Messer geliefert hätte. So aber schützte uns der Konvoi.

Wie groß der Hass auf die DDR war, konnte man auch daran erkennen, dass plötzlich alle Straßenschilder verdreht oder abmontiert waren. Stattdessen prangten überall Moskau – Schilder mit großen Pfeilen darauf. Selbst wenn wir eine Karte gehabt hätten, hätten wir nicht gewusst, in welchem Ort oder an welcher Abzweigung wir uns gerade befinden. Dann wurde es auch noch langsam dunkel. Der Konvoi war wieder mal aufgelöst und wir wussten nicht, wie es weitergehen sollte.

Endlich in Polen

Plötzlich aber fuhr ein Pole vor uns. Da wir inzwischen jede Orientierung verloren hatten, hängten wir uns an ihn, denn wir hofften, dass auch er so schnell wie möglich zur polnischen Grenze wollte. Ich glaube, er hatte uns registriert, denn er passte sein Tempo unserem Tempo an. Und so hatten wir wieder einmal großes Glück. Endlich leuchtete die polnische Grenzstation, ein bisher wohl völlig unbedeutender Grenzübergang, vor uns auf. Wir hatten es geschafft. Äußerst dankbar nickten wir dem hilfreichen Polen zu, der dann ganz schnell in der Nacht verschwunden war.

Problemlos wurden wir an dieser Grenze durchgewunken, denn wir hatten vorsorglich alle Flugblätter schon längst wieder zum Fenster rausgeworfen – natürlich, nachdem wir sie gelesen hatten. Das was darin stand, konnte ich ohnehin nur halb verstehen und mein Vater wollte kein Risiko eingehen. Aber hier in der nächtlichen Abgelegenheit schien sich zum Glück ohnehin Niemand für Politik zu interessieren.

Kaum lagen die paar Lichter der Grenzstation hinter uns, umfing uns eine neue gespenstische Angst. Die Stadt, durch die wir jetzt fuhren, bestand scheinbar vor allem aus verlassenen Ruinen. Viele Fenster und Türen waren mit Brettern vernagelt, gerade so, als wäre der Krieg gerade erst vorbeigegangen und die Bevölkerung noch immer geflüchtet. Danach folgte eine Landstraße durch eine menschenleere Gegend, über der ein nächtlicher Nieselregen niederging und dichte Nebelschwaden hingen. Mein Vater führte uns nach den Hinweisen der Grenzer so zielgerichtet wie möglich auf der kürzesten Strecke durch dieses polnische Niemandsland zum nächstgelegenen Grenzübergang in die DDR.

Nun, nachdem die politischen Gefahren hinter uns lagen, plagten uns nicht nur eine bleierne Müdigkeit und Erschöpfung, sondern auch ein schrecklicher Hunger immer mehr. Aber wo sollte man Rast machen in diesem grauen Nichts? Wo sollte man etwas zu essen herbekommen in dieser gespenstischen Nacht? Wie durch ein Wunder leuchteten aber plötzlich an unserem Weg ein paar einsam winkende Lampen eines Gasthofes auf. Wir blieben sofort stehen, um unser Glück zu versuchen. In dieser Schänke saßen einige Männer und sahen uns verwundert an, als wir eintraten. Wir aber steuerten auf einen Tisch zu und interessierten uns nur für die Speisekarte. Schnell bestellten wir uns das billigste Gericht, dessen Namen wir nicht einmal  aussprechen konnten. Ich glaube, dass die Wirtsleute extra für uns eine Ausnahme gemacht und zu dieser späten Stunde etwas gekocht haben, weil sie sahen, in welchem Zustand wir waren. Sie sprachen allerdings kein Wort deutsch.

Wir bekamen schließlich eine undefinierbare weißliche Suppe mit einem Geschmack, der mir derartig wider die Natur ging, dass buchstäblich nur der pure Hunger den Energiespender `reintrieb. Erstaunlicherweise aber fing die merkwürdig säuerliche Suppe an, mir richtig gut zu schmecken, als ich den letzten Löffel auf der Zunge hatte. Nun waren auch noch meine Geschmacksnerven völlig verwirrt. Bis heute weiß ich allerdings immer noch nicht, was ich 1968 in Polen so verzweifelt gegessen habe.

Neu gestärkt verlief die weitere Heimfahrt nun reibungslos. Wir erreichten die DDR - Grenze und dahinter wartete ja unser Zuhause schon sehnsüchtig auf uns. Wir waren einfach nur befreit und glücklich, als wir in diesem Jahr durch unser Heimattor in den Hof rollten.

All die überstandenen Schrecken hielten uns aber nicht davon ab, noch bis in die Mitte der 70iger Jahre immer wieder in die Puszta in den Urlaub zu fahren. Und nie wieder ist uns auf dem Weg durch die CSSR in den nachfolgenden Jahren ein ähnlicher Hass wie 1968 begegnet.



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