Zum Umgang mit Bildern der Kunst im Religionsunterricht
Günter Lange
 


Inhalt:
1. Zur Strittigkeit von Bildern
2. Zum Verhältnis von Bild und Wort
3. Zum Mehrwert von Bildern
4. Zur Überwindung der historischen Distanz
5. Zur Bedeutung der Ikonographie
6. Zur Methodik der Bildbegegnung


1. Zur Strittigkeit von Bildern

Der Gebrauch von darstellender Kunst ist im Christentum ständig strittig gewesen; das gehört schon zum jüdischen Erbe dieser Religion. Der Dekalog enthält ein klares Verbot von Statuen und sonstigen materiellen Abbildern Gottes (Ex 20,4; Dtn 5,8), und dieses Bilderverbot  wird in der frühen Kirche - bis etwa zur Mitte des 3. Jahrhunderts - voll respektiert. Das Christentum ist also ursprünglich keine Bildreligion. Seine Verkündigung ist Wortverkündigung, - sowie deren Veranschaulichung im liturgischen Tun und diakonischen Handeln.
 
Das Bilderverbot des Alten Testaments ist nun aber ebenfalls nicht selbstverständlich: Exemplarisch wird in der Geschichte vom Goldenen Kalb (Ex 32) erzählt, welche Versuchung darin lag, mit Gott mittels eines prächtigen Tierbildes in Verbindung zu treten (Þ Bildbeispiel: Nicolas Poussin, Anbetung des Goldenen Kalbes, um 1635). So belehren uns die Exegeten, daß das biblische Bilderverbot in seiner kompromißlosen Härte das Ergebnis eines andauernden Kampfes und Reflexionsprozesses und Ausdruck eines reformatorischen Bemühens in Israel war. In seiner endgültigen Fassung gehört es in die Exilszeit des 6. Jahrhunderts. Seitdem darf es, neben Sabbatgebot und Beschneidung, als eines der Konfessionsmerkmale des jüdischen Glaubens gelten.

Während Jesus das Sabbatgebot relativiert (Mk 2,27 par) und Paulus den Heilswert der Beschneidung für Christen bestreitet (Gal 5,9), bleibt das Bilderverbot in der frühen Kirche auch nach der Trennung von der Synagoge zunächst voll gültig.

Eine "liberale" Auslegung des Bilderverbots, und zwar gleichzeitig in der jüdischen wie in der christlichen Volksfrömmigkeit, erfolgt erst im Zuge der Inkulturation des biblisch begründeten Glaubens im griechisch-hellenistischen Kulturkreis. Zeugen dafür sind die Fresken in der Synagoge von Dura-Europos und in den Katakomben Roms. Diese Anfänge werden im allgemeinen auf die Mitte des 3. Jahrhunderts (oder kurz davor) datiert. Im christlichen Bereich gilt aber, daß diese Verletzung eines bis dahin geltenden theologischen Tabus kirchenoffiziell (noch) nicht gebilligt war; im ersten Gebrauch von Bildern artikulierte sich vielmehr so etwas wie "Kirche von unten".

[Literaturhinweise]
 

2. Zum Verhältnis von Bild und Wort

Zur nachträglichen theologischen Legitimierung von Bildern diente ab dem 5. Jahrhundert die Gleichsetzung von Bild und Wort. Eine unreflektierte katechetische Bilddidaktik geht bis heute von dieser Gleichsetzung aus: Bilder werden angesehen wie verschlüsselte Worte. Das Ziel einer Bilderschließung bestünde demnach ausschließlich in einer Rückübersetzung der visuellen Sprache des Bildes in die verbale.

Die frühere Sicht des Bildes als Quasi-Wort, als "stummes Wort", muß heute auch deshalb neu infrage gestellt werden, weil die moderne Kunst uns das Spezifische eines künstlerischen Gebildes, die genuine Sprache der Bilder besser zu sehen und zu erfassen gelehrt hat. Mit dem an der Kunst des 20. Jahrhhunderts geschulten Auge sehen wir auch die christliche Kunst der Vergangenheit neu, sehen förmlich, daß auch sie mehr ist als ein schweigendes Wort, das nur als Bibelersatz für Analphabeten gedacht gewesen wäre.

[Literaturhinweise]

 
3. Zum Mehrwert von Bildern

Unsere Bilddidaktik hätte also herauszustellen, daß das Bild gegenüber dem zugehörigen Text etwas Eigen-artiges und Eigen-sinniges ist; daß die Bildsprache von genuiner Qualität ist; daß das in Farbe und Form Realisierte nicht genausogut in Worten wiederzugeben ist. Anders gesagt: Wenn Gestalt und Gehalt eines Bildes ebensogut mit Worten zu rekonstruieren sind, erweist es sich als schwach, letztlich als überflüssig. Gerade das, was anders ist am Bild im Vergleich zum überlieferten Text, das "Wie" seiner Gestaltung und das Neue in bezug auf die bisherige ikonographische Tradition, machen den Reiz des Kunstwerkes und seinen religionspädagogischen Wert aus.

Allerdings gibt es auch so etwas wie katechetische Gebrauchskunst. Sie ist daran zu erkennen, daß lediglich illustriert wird, was geschrieben steht, und daß die Formelemente des Bildes allzu leicht und restlos in erklärende Worte überführt werden können. Das Gebrauchsbild leistet keinen nennenswerten Widerstand gegen seine totale Verbalisierung; es nötigt nicht zu immer neuem Sehen; sein Gehalt ist nicht unerschöpflich.

Um den "Mehrwert" von qualitätsvollen Bildern zu erfassen genügt nicht die schlichte Frage: Was ist hier dargestellt? Die entscheidende Frage muß lauten: Was hat der Künstler - mit Farbe und Form - aus dem Thema gemacht? Wie hat er es durch seine Formgebung akzentuiert? Und wenn der Bezugstext herangezogen wird, ist zu fragen: Welchen Augenblick hat er gewählt? Entspricht seine Wahl der Pointe des Textes? Ist das, was vorher und nachher geschieht, irgendwie simultan mit im Bild? Die mögliche Simultaneität ist ja ein wichtiges Merkmal von Bildkunst gegenüber der sukzessiven Wortfolge.

Die Schüler haben im Bibelunterricht gelernt, daß und wie Texte von Autoren arrangiert sind und ihren "Sitz im Leben" haben. Das wäre nun zu übertragen, um den Bildern gerecht zu werden: Auch sie sind von Produzenten arrangiert worden, und wir verstehen sie erst richtig, wenn wir durchschauen, daß es sich jeweils um ein Arrangement handelt, in dem sich die Sichtweise, die Spiritualität, das Stilempfinden der jeweiligen Macher, ihrer Auftraggeber bzw. Adressaten, ihrer Region oder Epoche, ihrer sozialen Schicht und - nicht zu vergessen - die Funktion des Bildes in der Frömmigkeit spiegeln.

Da sich der spezifische Gehalt eines Kunstwerkes aus dessen Gestalt ergibt (und nicht schon aus dem theologischen Wissen um das dargestellte Thema), und da die Bildsprache von vielen unserer Adressaten wie eine Fremdsprache angesehen wird, muß auch im religionspädagogischen Zusammenhang die ästhetische Machart von Bildern erlernt und durchschaut werden. Der Bildsinn soll ja - bis in die Nuancen hinein - aus Farbe und Form erhoben werden. Die subjektive Befindlichkeit darf durchaus vor einem "anrührenden" Bild in Schwingung geraten, aber sie muß ihren Grund in dieser Machart des Bildes haben und nirgendwo anders, auch nicht in der Ergriffenheit des Lehrers und seinen ergreifenden Begleitworten.

[Literaturhinweise]
 

4. Zur Überwindung der historischen Distanz

An und für sich wären religiöse Bilder aus unserem Jahrhundert zu bevorzugen: an ihnen ist nicht nur die Bedeutung der Formensprache für den Gehalt des Bildes zu studieren. Sie akzentuieren das Bildarrangement anders, sogar dort, wo sie scheinbar nur der Tradition folgen. In dieser Akzentuierung entsprechen sie eher der Glaubensbefindlichkeit unserer Epoche.

Wo bleiben aber bei dieser Option für die moderne Kunst die unzähligen Bilder der Vormoderne? Gehören sie auf den Müllhaufen der Unterrichtsmittel? Sind sie wirklich nur noch für den Unterricht in (Kirchen-)Geschichte und als Beleg für die einstige Wirkungsgeschichte der Bibel interessant?
 
Die rechtfertigende Antwort auf solche Fragen kann nicht global gegeben werden. Bei jedem einzelnen Werk muß experimentell geprüft werden, ob es uns und mir persönlich noch etwas zu "sagen" hat. Offenbar nimmt das Auge in größerer Unmittelbarkeit wahr und ist deshalb auch über die historische Distanz hinweg direkter ansprechbar. So können Menschen, die wortsprachlich absolut nicht in der Lage sind, sich zu verständigen, dennoch gemeinsam vor einem Bild stehen und davon angesprochen sein. Die Sprache der Bilder ist in gewisser Weise universal, eine "humane Universalie", die den Zeitenabstand leichter überwinden läßt als das bei Texten der Fall ist.

Um den historischen Abstand und die emotionale Kluft zwischen uns und den "alten" Bildern der christlichen Tradition zu überwinden, ist es ratsam, besonders auf die Gebärdensprache der Protagonisten einer bildlichen Darstellung zu achten. Zwar ist auch die menschliche Gebärdensprache epochal und regional gesellschaftlich geprägt. Dennoch hat sich gezeigt, daß die Gebärden der Figuren eines Bildes für moderne Menschen eine Zugangsmöglichkeit zum Bildsinn alter religiöser Kunst bieten (Þ Bildbeispiel: Albrecht Dürer, Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Achten sie auf die Hände!). Dieser methodische Weg kommt einem spürbar gestiegenen heutigen Interesse an körpersprachlichen Ausdrucksformen entgegen.
 
[Literaturhinweise]
 

5. Zur Bedeutung der Ikonographie

Ikonographie ist die Kunde von den Bildthemen - von den dargestellten Gegenständen, den Stoffen oder Sujets der Bilder, auch von ihren Motiven. Sie ist zuständig für die Erklärung von Attributen der Heiligen, von Allegorien und Symbolen. Ikonographische Innovationen lassen häufig auf Umbrüche im Sehen, Denken, Empfinden und Glauben einer Zeit schließen. Insofern ist der Religionspädage an der Ikonographie und ihren Änderungen im Laufe der Wirkungsgeschichte der biblischen Botschaft besonders interessiert.

Die Bedeutung ikonographischer Fragen läßt sich an der vorliegenden Sammlung von Bildern der Tradition mit christlicher Thematik auf Tritt und Schritt feststellen. Um das zu demonstrieren, beschränken wir uns auf die sogen. Karlsruher Passion des Hans Hirz und fragen nur nach drei ikonographischen Einzelheiten (Þ Bildbeispiel: Hans Hirz, Kreuztragung und Entkleidung Christi).

Ikonographische Beobachtungen und Erläuterungen zeigen, welcher religionspädagogisch-spirituelle Gewinn aus diesen Kenntnissen erwachsen kann.

[Literaturhinweise]

 
6. Zur Methodik der Bildbegegnung

Wenn es sich wirklich um vielschichtige ("polyvalente"), geheimnisvolle, für verschiedene Deutungen offene Bilder handelt, treten wir ihnen gegenüber, wie wenn wir einer zunächst fremden Person begegnen, mit der wir zu einer persönlichen Beziehung kommen möchten.

Damit verbietet sich eine Aufgabenstellung, die darauf hinauslaufen würde, eine verbale Kurzformel für ein Bild zu suchen, die dann praktisch die "Bildaussage" ersetzt. Dagegen spricht die einfache These: Wenn man es genausogut begrifflich sagen könnte, wäre das Bild überflüssig.

Ein wichtiges Mittel, die Intensität der Bildbegegnung zu steigern, ist die möglichst genaue Beschreibung des sichtbaren Bildbestandes vor aller Interpretation. Eine solche "verbale Rekonstruktion" kann das visuelle Kunstwerk gewiß nicht einholen und erst recht nicht ersetzen. Sie ist aber die Voraussetzung für das "sehende Verstehen" (Max Imdahl) und gehört insofern zum methodischen Rüstzeug. Die klare Beschreibung enthält die Einladung und den Versuch, sich auf das Gebilde voll und ganz einzulassen - so als gäbe es im Augenblick nichts anderes als dieses.

Im Grunde geht es bei der Bildbeschreibung auch um eine spirituelle Forderung: Aufmerksam zu sein mit angespannter Außen- und Innenkonzentration, Sich-Einlassen, Sich-Öffnen, Etwas-mit-sich-geschehen-Lassen. Dazu tritt dann natürlich immer auch die möglichst angemessene Reflexion über das, was als vor Augen liegend oder in die Augen springend beschrieben wurde.

Der mögliche Verlauf einer Bildbegegnung ist stärker systematisiert im folgenden Standardschema. Es handelt sich wirklich nur um ein Schema; vor einer "schematischen" Anwendung ist gerade deshalb zu warnen.

Je mehr das Schema verinnerlicht ist, um so souveräner kann der Umgang damit sein. Die vorgeschlagene Reihenfolge ist nicht beliebig, aber auch nicht absolut zwingend, z.B. wird sich in der Praxis die Frage nach dem Thema oder Titel des Bildes - vor allem bei Ungeübten - nicht immer so lange hinausschieben lassen, und häufig wird das Bildgespräch wie bei einem Bibelgespräch einfach bei der Frage einsetzen: Was ist ungewohnt? Was ist auffällig?

1. Spontane Wahrnehmung

Was sehe ich?

Stilles Abtasten und Lesen des Bildes; spontane, unzensierte Äußerungen; im Bild spazieren gehen, hier und dort verweilen mit ungelenkter Aufmerksamkeit.

2. Analyse der Formensprache

Wie ist das Bild gebaut?

Systematische Wahrnehmung und Benennung der Syntax des Bildes, seiner Formen, Farben, Strukturen und Rhythmen. Die Einzelheiten und der Zusammenhang des ganzen sichtbaren Formbestandes. Bewußtmachung der Bildordnung. Volle Außenkonzentration.

3. Innenkonzentration

Was löst das Bild in mir aus?

Meine Gefühle und Assoziationen. Auf welche Gestimmtheit zielt das Bild selbst? An was erinnert es mich? Anziehend oder abstoßend?

4. Analyse des Bildgehalts

Was hat das Bild zu bedeuten?

Die Thematik des Bildes. Sein Bezug zum Text der Bibel oder zu sonstigen Quellen. Sein Standort innerhalb der Ikonographie; seine Innovationen bzw. Bestätigungen der Tradition. Die Glaubenssichten und Lebenserfahrungen, individuelle oder epochale, die sich im Bild niedergeschlagen haben. Rückbindung des geistigen Gehalts an die sinnliche Gestalt: der spezifische Gehalt, den das Bild dem Thema verleiht.

5. Identifizierung mit dem Bild

Wo siedele ich mich an auf dem Bild?

Sich in das Bild hineinziehen, sich in die Geschichte verwickeln lassen. In welcher Figur finde ich mich am ehesten wieder? Wie behandelt mich das Bild als Betrachter? Was erwartet es von mir? Bewirkt es Einverständnis oder Irritation? Kann es mich unmerklich verwandeln? Zieht es mich in seinen Bann? Überlasse ich mich ihm oder sträube ich mich?

Die wichtigsten Anliegen dieses Essays sind dem Fünf-Schritte-Schema zu entnehmen: daß sich ein Bildbetrachter auf die Formensprache als solche einlassen muß, "bevor" es zu gefühlsmäßigen Reaktionen kommt; daß er wirklich auf die Form reagiert; daß der spezifische Gehalt des Bildes nicht so sehr am Thema hängt, sondern an dem, was die bildnerische Realisierung des Themas daraus macht; daß infolgedessen die Besprechung des Themas bzw. der Schrift- und Traditionsquellen für das Bild möglichst hinausgeschoben wird usw.

Insgesamt geht es um eine Verlangsamung des Sehens, um eine Stärkung der Sehgeduld, - im Vertrauen darauf, daß sich dies bei einem Kunstwerk lohnt (und damit in Opposition zu den Sehgewohnheiten beim Fernsehen!).

[Literaturhinweise]