Die aktuelle Erforschung der Worterkennung beim Lesen beschaeftigt sich vorwiegend mit zeitlichen Aspekten der Wortverarbeitung. Lesen ist aber auch die Verarbeitung raeumlich verteilter Information. Ueber die kognitive Repraesentation raeumlicher Attribute von Woertern (z.B. Position, Laenge) ist wenig bekannt. Die hier vorgestellten Arbeiten untersuchten die kognitive Repraesentation der Wortlaenge. Hierzu wurde die aus der Neuropsychologie bekannte Halbierungsaufgabe verwendet.
Probanden wurden gebeten, die subjektive Mitte visuell praesentierter Woerter und Linien zu bestimmen. Ein Halbierungsfehler zeigt hierbei eine kognitive Ueber-Repraesentation derjenigen Seite des Reizes an, zu der der Fehler gerichtet ist.
Es zeigte sich (1) eine systematischer Halbierungsfehler hin zum Wortbeginn, der (2) mit der Anzahl der Buchstaben zunahm, nicht aber mit der physikalischen Laenge des Wortes. Dieser Worthalbierungsfehler war (3) nicht aus dem Linienhalbierungsfehler vorhersagbar und wurde (4) durch eine Aufmerksamkeitsmanipulation nicht beeinflusst. Der Fehler kehrte sich (5) bei Manipulation des lexikalischen Zugriffs um und war (6) abhaengig von der Verteilung der Phoneme im Wort.
Diese Befunde haben Implikationen fuer unser Verstaendnis des Lesens. Sie zeigen zunaechst, dass Wortlaenge nicht veridikal sondern funktional mit Hinblick auf lexikalischen Zugriff repraesentiert ist. Der dem Fixationsfehler beim normalen Lesen vergleichbare Halbierungsfehler legt ferner eine repraesentationale Mitsteuerung von Blickbewegungen beim Lesen nahe. Schliesslich weist der Phonemeffekt in einer rein visuellen Aufgabe auf eine obligatorische phonologische Umcodierung beim Lesen hin.
Referat in der Gruppe Visuelle Worterkennung: Orthographische, phonologische und lexikalische Verarbeitung, Dienstag, 30. März 1999, 16:00, HS 17
