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Wie werden Menschen mit Übergewicht und Adipositas in unserer Gesellschaft therapeutisch versorgt und wie lassen sich sinnvolle Versorgungspfade etablieren? Welchen Beitrag können internetbasierte Interventionen leisten? Mit welchen Vorurteilen haben Menschen mit Adipositas zu kämpfen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Steffi Riedel-Heller, Professorin für Sozialmedizin am Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP) der Medizinischen Fakultät. Seit vielen Jahren forscht sie und ihr Team zu Adipositas. Im Interview mit LUMAG spricht sie über die Rolle von Hausärzten bei der Versorgung sowie über Vorurteile in der Gesellschaft und bei Behandlern.

In welchem Zusammenhang forschen Sie an Ihrem Institut aktuell zu Adipositas?

Prof. Dr. Steffi Riedel-Heller: Wir schauen uns aktuell die Versorgung von Adipositas-Kranken an. Hausärzte spielen dabei eine zentrale Rolle, sie sind oft erster Ansprechpartner und quasi die Eintrittspforte ins Gesundheitssystem und begleiten Adipositas-Patienten auch im Rahmen der sich einstellenden weiteren Folgeerkrankungen.  Hausärzte sind wichtige Partner bei der Etablierung entsprechender Versorgungspfade. Bisherige Ergebnisse verweisen auf Optimierungsmöglichkeiten bei der Gewichtsberatung in der ärztlichen Primärversorgung und offenbarten auch Fortbildungswünsche in diesem Bereich. So haben wir in einem aktuellen Projekt ein Online-Tutorial für Ärzte entwickelt. Wir setzen es auch für Medizinstudierende im Rahmen eines Seminars ein, damit auch zukünftige Mediziner hier besser gerüstet sind. Forschung muss immer auch in die Lehre hineinwirken.

In einem weiteren Projekt, das wir mit unseren Krebsmedizinern vor Ort gestartet haben, beschäftigen wir uns mit verpassten Chancen für übergewichtige Frauen im Rahmen der Krebsprävention. Frauen mit Übergewicht und Adipositas sind mit einem höheren Krebsrisiko konfrontiert, doch Untersuchungen zeigen, dass sie seltener Gesundheits- und Vorsorgeleistungen in Anspruch nehmen. Die Gründe für dafür sind noch weitgehend unbekannt. Genau hier setzt das Projekt an, um die Ursachen zu ermitteln und aufzuklären, ob und welche Art von Interventionen nötig sein könnte, um die Krebsvorsorge bei übergewichtigen Frauen zu verbessern.

Last but not least sind wir gerade dabei, ein nachgewiesen wirksames Selbstmanagement-Programm bei Depression, moodgym, für adipöse Menschen zu erschließen. Wir wissen, dass übergewichtige Menschen ein besonderes Risiko haben, eine Depression zu entwickeln und dass Depression und Adipositas häufig gemeinsam auftreten. Im Rahmen einer DFG-Studie konnten wir bei Behandlern und bei Betroffenen mit Adipositas und Depression eine hohe Nutzerakzeptanz dieser Interventionen zeigen. Das Besondere ist, dass moodgym im Gegensatz zu anderen und kommerziellen verhaltensthrapiebasierten Online-Programmen kostenfrei und anonym frei im Netz für jeden zur Verfügung steht .  Hier sind wir dabei, eine Wirksamkeitsstudie für adipöse, depressive Patienten aufzulegen.

Sie haben sich zusammen mit dem Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum IFB AdipositasErkrankungen auch schon mit Stigmatisierung übergewichtiger Menschen beschäftigt. Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gekommen?

Prof. Dr. Steffi Riedel-Heller: Schwere Menschen haben es nicht leicht. Menschen mit Übergewicht und Adipositas leiden nicht nur gesundheitlich. Sie müssen mit Vorurteilen und mit Ausgrenzung kämpfen. Gefräßig, faul, in der Folge krank und an allem selber schuld – das sind nur einige solcher Vorurteile. Unsere Studien mit Claudia Luck-Sikorski konnten zeigen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung fettleibige Menschen mit negativen Stereotypen verknüpft und sie deutlich schlechter als normalgewichtige Mitbürger bewertet. Und das hat Folgen: Die Adipositasforschung hat gezeigt, dass die Stigmatisierung und das Selbststigma zu einem ungünstigen Essverhalten und somit zur Erhaltung oder Verschlimmerung der Adipositas beitragen. Es entwickelt sich ein Teufelskreis aus Stigmatisierung aufgrund von Adipositas, mehr sozialem Rückzug, weiterer Zunahme des Gewichts und folglich immer stärkerer Stigmatisierung. Dazu kommt häufig noch die Erfahrung von Benachteiligung und Diskriminierung. Je größer das Übergewicht ist, umso stärker erfahren die Betroffenen Diskriminierung. Während bei Übergewicht nur 5,6 Prozent von Diskriminierung berichten, sind es bei leichter bis mittlerer Adipositas 10 bis 18 Prozent, bei schwerer Adipositas fast 40 Prozent. Die Vorurteile gegenüber adipösen Menschen unterschieden sich bei Ärzten, Pflegern und anderen Professionellen im Gesundheitssystem kaum von denen in der Allgemeinbevölkerung. Menschen in Gesundheitsberufen kommt aber eine besondere Verantwortung zu. Verschiedene Möglichkeiten zur Stigmareduktion sollten integraler Bestandteil in Aus- und Weiterbildung sein: Wir haben es in der Hand, ob wir ein Vorurteil nähren und vor allem, ob wir es handlungswirksam werden lassen.

Das Zentrum „Adipositas verstehen“ will verschiedene Fachdisziplinen zusammenbringen. Für wie sinnvoll halten Sie diesen Ansatz?

Prof. Dr. Steffi Riedel-Heller: Adipositas ist eine Risikokonstellation für viele Erkrankungen von Diabetes bis hin zur Alzheimer-Erkrankung. Die biomedizinischen Fragestellungen, die im Rahmen der Grundlagenforschung und der klinischen Forschung bearbeitet werden, sind unerlässlich. Darüber hinaus braucht es dringend Versorgungsforschung, damit mehr Betroffene von dem aktuellen Wissenstand profitieren können. Und es braucht eine Erweiterung der Perspektive um die soziale und gesellschaftliche Dimension. Menschen sind soziale Wesen. Unser Lebensstil - der Krankheit begünstigen oder Gesundheit fördern kann - wird sozial geprägt und durch die Umwelt, in der wir leben, beeinflusst. Da kommen dann besonders Themen zur Prävention auf, an die man vielleicht nicht zuerst denkt: Schul- und Breitensport, Radwege und Parks in Städten, Zuckersteuer auf Süßgetränke, um nur wenige Beispiele zu nennen.

Adipositas ist eine Epidemie, die dabei ist, zu einem Tsunami für die Bevölkerungsgesundheit zu werden. Zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen in Deutschland sind übergewichtig. Ein Viertel der Erwachsenen ist adipös. Die Public-Health-Relevanz liegt auf der Hand. Die Zahlen machen auch deutlich, dass hier kein einzelnes Medikament Abhilfe schaffen kann. Um Adipositas zu verstehen und neu zu denken ist eine Erweiterung der Perspektive um die soziale und gesellschaftliche Dimension zwingend notwendig. Sie wird das Feld einen wichtigen Schritt voranbringen.