Die große Mehrheit der Befragten gab an, sich ohne politischen Einfluss zu fühlen. Die Identifikation als Ostdeutsche ist hoch, die Bilanz der Wende durchwachsen: „Ein Viertel fühlt sich als Verlierer der Wende, nicht mal die Hälfte möchte sich als Gewinner bezeichnen. Rückblickend ist die Zufriedenheit unter den Befragten mit ihrem Leben in der DDR hoch“, fasste Decker ein zentrales Ergebnis der repräsentativen Befragung zusammen. Die Studie, die auch Fragen zum Erleben und zur Bewertung der Wendejahre stellt, entstand in Kooperation mit dem Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) - einem Verbund aus elf Hochschul- und Forschungsinstituten, der die Widersprüche des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland in den Blick nimmt.
Die Studie ergab außerdem eine hohe Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen in den ostdeutschen Bundesländern. Chauvinistische und ausländerfeindliche Aussagen würden nur von einer Minderheit der Befragten abgelehnt, betonten die Projektleiter. Elemente der Neo-NS-Ideologie würden zwar nicht im selben Maße offen geäußert, antisemitische und sozialdarwinistische Statements finden aber ebenfalls Zustimmung – ein Drittel der Bevölkerung stimmt ihnen vollständig oder teilweise zu. Ausgeprägt sei die Zustimmung in den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. „Hier ist damit das Potential für extrem-rechte und neonazistische Parteien, Wähler zu finden, besonders hoch. Jeder zweite wünscht sich eine ‘starke Partei‘, die die ‚Volksgemeinschaft‘ insgesamt verkörpert. Statt pluralistischer Interessensvielfalt wird eine völkische Gemeinschaft gewünscht“, erläuterte Brähler. Decker fügt hinzu: „Unsere Untersuchung zeigt, dass sich derzeit viele Menschen in den ostdeutschen Bundesländern nicht mehr demokratische Teilhabe und Sicherung der demokratischen Grundrechte wünschen, sondern die scheinbare Sicherheit einer autoritären Staatlichkeit.“
Die Zufriedenheit mit der Demokratie, wie sie im Alltag funktioniert, ist der Befragung zufolge schwach ausgeprägt. Nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung finde sich in ihr wieder. Das korrespondiere mit der hohen politischen Deprivation: Zwei Drittel halten es für sinnlos, sich politisch zu engagieren, und kaum jemand glaubt, einen Einfluss auf die Regierung zu haben. Dazu passt, dass die Verschwörungsmentalität neben der autoritären Aggression das am weitesten verbreitete Element des autoritären Syndroms ist. „Wir beobachten also ein ausgeprägtes Fremdeln mit der Demokratie, sie wird von vielen nicht als etwas Eigenes verstanden“, ergänzt der an der Studie beteiligte stellvertretende Direktor des EFBI, Dr. Johannes Kiess. Diese Werte seien seit etwa 20 Jahren konstant.
Die Sehnsucht nach der DDR sei ausgeprägt, zwei Drittel teilen sie. Drei Viertel fühlten sich als Ostdeutsche. Viele fühlten sich aber auch als Deutsche und als Bürger der Bundesrepublik, mehrere Identitäten können also parallel zueinander existieren. Nur die Hälfte rechne sich zu den Gewinnern der deutschen Einheit, ein Drittel hingegen zähle sich zu den Verlierern. Dieser Rückblick auf die DDR hängt nicht zuletzt mit dem Wunsch nach einer Einparteiendiktatur zusammen, wie es die hohe Zustimmung zur Forderung nach „einer einzigen starken Partei, die die Volksgemeinschaft verkörpert“ verdeutlicht. Diese Ergebnisse zeigen, dass extrem-rechte Parteien mit ihren ideologischen Angeboten zahlreiche Anknüpfungspunkte in die Breite der Bevölkerung haben. Konsequenterweise finden sich unter den Anhängern der AfD auch die meisten Menschen mit rechtsextremen Einstellungen.
Über die Studie
Seit 2002 werden von den Studienleitern mit den „Leipziger Autoritarismus Studien“ bevölkerungsrepräsentative Studien zur politischen Einstellung in Deutschland durchgeführt, bis 2018 bekannt als „Mitte Studien“. Während des gesamten Zeitraums fielen dabei die unterschiedlichen politischen Orientierungen in Ost- und Westdeutschland auf. Während diese noch zu Anfang der Erhebungsreihe für die neuen und alten Bundesländer verwandte Ausprägungen zeigten und in Ostdeutschland etwa antisemitischen Aussagen seltener offen zugestimmt wurde, hat sich im Laufe der Jahre eine gegenläufige Entwicklung gezeigt. Während in Westdeutschland in der Tendenz eine Abnahme offen geäußerter, rechtsextremer Einstellung zu verzeichnen war, fanden sich in Ostdeutschland starke Schwankungen. Da die Stichprobe in den ostdeutschen Bundesländern wegen des geringeren Anteils an der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung zu klein ausfällt, lassen sich in der Regel politische Einstellungen und ihre Einflussfaktoren nicht getrennt für einzelne ostdeutsche Bundesländer berechnen. Dadurch besteht eine Forschungslücke, die Unterschiede in der politischen Kultur innerhalb und zwischen den ostdeutschen Bundesländern konnten bisher bei Einstellungsuntersuchungen nicht ausreichend gewürdigt werden. Die hier vorliegende Auswertung soll diese Lücke schließen helfen, indem die Wissenschaftler:innen auf repräsentativer Basis die Verbreitung der antidemokratischen Einstellung und Ressentiments dokumentieren.
Deshalb haben die Studienleiter zusammen mit Wissenschaftler:innen der Universitäten Jena und Mainz im Jahr 2022 eine bevölkerungsrepräsentative Studie in der Wohnbevölkerung der fünf ostdeutschen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen durchgeführt. Ost-Berlin wird in der Regel nicht als Bundesland gezählt, weil es zum Bundesland Berlin gehört. Dennoch bleibt die Frage, welche Besonderheiten in der politischen Einstellung sich auf dem Gebiet der ehemaligen Hauptstadt der DDR verzeichnen lassen, weshalb Ost-Berlin in die Untersuchung aufgenommen wurde.
In den vergangenen Jahren wurden in Ostdeutschland eine Reihe von Landesforschungsinstituten gegründet, in Brandenburg die Julius-Emil-Gumbel-Forschungsstelle am Moses Mendelsohn-Zentrum, das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Thüringen, das Else-Frenkel-Brunswik-Institut an der Universität Leipzig für Sachsen und das Institut für demokratische Kultur an der Hochschule Magdeburg-Stendal für das Bundesland Sachsen-Anhalt. Diese Einrichtungen in den ostdeutschen Bundesländern kooperieren im Verbund der Forschungszentren für Demokratie- und Rechtsextremismusforschung. Die empirischen Ergebnisse werden deshalb von den jeweiligen Instituten analysiert und die Befunde aus der Perspektive des jeweiligen Bundeslandes bewertet.