Pressemitteilung 2022/100 vom

Warum es für die Gegenwart von Bedeutung ist, über DDR-Kinderheime zu forschen, welche Auswirkungen die Anerkennung von Unrecht auf Einzelne hat und wie die Zusammenarbeit mit den Betroffenen weitergeht, darüber berichtet Prof. Dr. Heide Glaesmer im Interview. Sie ist Leiterin des Forschungsverbundes TESTIMONY, welcher in Zusammenarbeit der Universität Leipzig, der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der Medical School Berlin und der Alice Salomon Hochschule Berlin durchgeführt wird. Aktuell bereitet sie mit ihren Kolleg:innen die Tagung am 1. Juni vor, an der Menschen mit DDR-Heimerfahrungen, Fachkräfte und die interessierte Öffentlichkeit teilnehmen werden. Das mehrjährige Forschungsprojekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Interessierte Medienvertreter:innen sind gebeten, sich rechtzeitig anzumelden.

Die DDR ist seit mehr als 30 Jahren Geschichte. Die junge Generation kennt DDR-Geschichten nur aus Erzählungen der Eltern und Familienangehörigen. Welche Bedeutung haben die Ergebnisse Ihrer Forschung für die Gesellschaft heute?

Ja, es ist inzwischen lange her und für viele nur noch ein historisches Ereignis. Zum einen geht es uns darum, die DDR-Heimerziehung aufzuarbeiten, vor allem auch die negativen Aspekte differenziert zu untersuchen und darzustellen. Wir haben einen Schwerpunkt auf sexualisierter Gewalt in unserem Forschungsverbund, interessieren uns aber für alle Erfahrungen und vor allem auch für die Aufarbeitung und Bewältigung der Erfahrungen. Für die Betroffenen ist es oft wichtig, widerfahrenes Unrecht sichtbar zu machen, zur Aufarbeitung beizutragen und die Bewältigung der Folgen damit zu unterstützen. Darüber hinaus gibt es aber immer wieder Berichte über Missstände in Einrichtungen der Jugendhilfe, auch nach Ende der DDR und in der BRD und eben auch heute noch. Wir sind davon überzeugt, dass die Erkenntnisse der Studie somit auch für die Gegenwart relevant sind. 

Prof. Glaesmer, Sie leiten die Forschungsgruppe Psychotraumatologie und Migrationsforschung an der Medizinischen Fakultät. Was ist für Sie die wichtigste Erkenntnis aus dem Forschungsverbund TESTIMONY? 

Wir stecken mitten in den Auswertungen, aber schon jetzt gibt es Befunde, die sehr wichtig sind. In den Ergebnissen wird deutlich, dass Missbrauchs- und Vernachlässigungserfahrungen sehr häufig sind, sowohl in den Heimen, aber auch in den Herkunfts-, Adoptiv- und Pflegefamilien, in denen die Kinder gelebt haben. Oft waren die Kinder und Jugendlichen in beiden Settings betroffen. Sie wurden aus der Familie genommen, weil es Probleme gab. Das Heim war aber dann nicht selten ein Ort, an dem weitere negative Erfahrungen gemacht wurden. Statt die Kinder zu schützen und eine Bewältigung und Heilung zu fördern, kamen weitere Missbrauchs- und Vernachlässigungserfahrungen hinzu. Die Häufigkeit psychischer Störungen ist bei den Befragten noch heute sehr hoch im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, eben auch Jahrzehnte später. Hierin spiegeln sich die Langzeitfolgen der schwierigen Entwicklungsbedingungen wider. Leider finden sich auch sehr häufig Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt in den Heimen, diese wurde sowohl von Betreuungspersonen verübt als auch von anderen Kindern und Jugendlichen. Hier zeigt sich, wie die Organisation von Heimen und die strukturellen Rahmenbedingungen dazu führten, dass sexualisierte Gewalt stattfand, in der Regel nicht bestraft wurde und die Kinder und Jugendlichen dieser schutzlos ausgesetzt waren. 

Neben vielen negativen und traumatisierenden Erfahrungen in Kinderheimen, Spezialheimen und Jugendwerkhöfen, die uns berichtet wurden, haben sich immer wieder auch Menschen mit ihren positiven Erfahrungen gemeldet. Manche erlebten das Heim gar als „Rettung“. Die öffentlichen Diskurse zur DDR-Heimerziehung sind aber fast ausschließlich auf die negativen Erfahrungen fokussiert. Ohne diese in irgendeiner Weise bagatellisieren zu wollen oder gar die Aufarbeitung behindern zu wollen, möchten wir auch den Menschen mit positiven Erfahrungen einen Raum in der öffentlichen Darstellung einräumen. Sie finden sich sonst in den Narrativen zur Heimerziehung in der DDR nicht wieder. 

Knapp eine halbe Million Kinder wurden in der Zeit von 1949 bis 1989 in DDR-Kinderheimen betreut. Das ist nur ein kleiner Teil der ehemaligen DDR-Bevölkerung, die ihr Leben zeitweise im Heim verbracht haben. Warum ist es aus Ihrer Perspektive wichtig, zu diesem Thema zu forschen? 

Für die Betroffenen sind die Erfahrungen prägend fürs ganze Leben, vor allem Unrechtserfahrungen und Misshandlungen wirken über Jahrzehnte. Die Anerkennung von Unrecht und dessen Folgen auf gesellschaftlicher Ebene hat auch eine große Bedeutung für die individuelle Bewältigung der Menschen, die diese Erfahrungen gemacht haben. Wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse, die über individuelle Geschichten hinausgehen, sind für eine sachliche und empirisch fundierte Auseinandersetzung notwendig, auch im Hinblick auf die Geschichte der DDR. Und nicht zuletzt gibt es auch heute noch Herausforderungen in der Jugendhilfe und Heimerziehung. Manche Dinge kann man sicher auch aus der Vergangenheit lernen. 

Ist die Zeit der DDR-Heime mit derer aus Kinderheimen anderer Diktaturen beziehungsweise Unrechtsstaaten vergleichbar? 

Es gibt auf jeden Fall viele Parallelen, nicht nur zu Diktaturen. Leider gab es in vielen Ländern große Missstände in der Heimerziehung, unter anderem auch in konfessionellen Heimen. Auch für die alte Bundesrepublik gibt es ja Forschung und Aufarbeitung dazu. Die vergleichende Forschung steht allerdings noch aus. 

Wie geht es nach der Tagung weiter? Was machen Sie mit den Ergebnissen?

Wir arbeiten momentan an den ersten wissenschaftlichen Publikationen. Wir werden als Verbund auch gemeinsam ein Buch schreiben und wichtige Ergebnisse darin darstellen. Und, wir möchten auch den Teilnehmer:innen Einblick in die Ergebnisse geben. Deshalb wird es auch eine populärwissenschaftliche Zusammenfassung geben, die als kurzer Bericht an alle Teilnehmer:innen geschickt wird. Wir werden auch versuchen, Ergebnisse in weiteren Bereichen wie zum Beispiel in der Bildungsarbeit mit jungen Zielgruppen einzubringen. Hier ist die Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau eine wichtige Kooperationspartnerin für uns. 

Unser Verbundprojekt verfolgt einen partizipativen Forschungsansatz, das heißt wir haben von Anfang an mit Zeitzeug:innen zusammengearbeitet. Zum Beispiel in der Entwicklung des Fragebogens oder bei Veranstaltungen. Bei unserer Tagung wird es einerseits Präsentationen der Projektteams geben, aber es gibt eben auch Workshops, in denen die Ergebnisse der Studien und die Anliegen der Betroffenen gemeinsam diskutiert werden. 

 

Weitere Informationen zur Tagung