Pressemitteilung 2020/261 vom

30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung sind die Lebensverhältnisse in Ost und West noch immer nicht angeglichen. Die Wirtschaftskraft in Ostdeutschland liegt zehn bis fünfzehn Prozent unter dem Niveau der wirtschaftsschwächsten Westländer. Dr. Mario Hesse, Finanzwissenschaftler der Universität Leipzig, erklärt im Interview die Ursachen dieser Entwicklung und gibt einen Ausblick, wie es im Osten nach dem Auslaufen des Solidarpakts II wirtschaftlich weitergehen könnte.

Warum haben sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den ostdeutschen Bundesländern 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung noch immer nicht an die westdeutschen angepasst?

Hier gibt es verschiedenste Einflussfaktoren. Die Zeit nach 1990er war sehr bewegt und die ganze DDR-Volkswirtschaft wurde auf den Kopf gestellt. Vieles, was damals an wirtschaftlichen Strukturen weggefallen ist, wurde nicht ersetzt. Andererseits wurden neue Standorte und neue Wirtschaftszweige etabliert. Vieles von dem, was vor 30 Jahren an Weichen gestellt wurde, wirkt bis heute nach. Unternehmenszentralen sind im Osten nach wie vor rar gesät, Netzwerke konnten sich erst über 30 Jahre etablieren und vieles ist von Fördermitteln abhängig. Daher ist der „gewachsene Wohlstand“ schwächer ausgeprägt als in Westdeutschland. Es gibt aber auch gute Entwicklungen, wie die Dynamik in Berlin, Leipzig, Dresden oder Jena zeigt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Wirtschaftskraft im Osten noch immer zehn bis fünfzehn Prozent unter dem Niveau der wirtschaftsschwächsten Westländer liegt und dass einige Regionen mehrfach vom Strukturwandel betroffen sind. Nicht zu unterschätzen ist auch der demografische Wandel. Regionen, die so schnell schrumpfen und altern wie viele Teile Ostdeutschlands, gibt es im Westen nur wenige.

Die ostdeutschen Haushalte erreichen nur 60 Prozent des westdeutschen Steueraufkommens. Warum sind die Unterschiede nach drei Jahrzehnten immer noch so groß?

Dies hat vor allem mit der angesprochenen wirtschaftlichen Schwäche zu tun. Diese überträgt sich auf die Steuereinnahmen. In Ostdeutschland, wo es mehr Arbeitslose gibt, die Menschen weniger verdienen und gewisse hochproduktive und gut bezahlte Branchen eher schwach vertreten sind, sind die Einkommen insgesamt niedriger als im Westen. Über die progressive Einkommensteuer überträgt sich dies überproportional auf das Steueraufkommen. Dieser Effekt lässt sich zwar auch in der Nord-Süd-Verteilung innerhalb Deutschlands beobachten. Für Ostdeutschland kommt allerdings noch hinzu, dass auch die Unternehmensgewinne niedriger ausfallen. Das hat wiederum mit der geringen Zahl von großen Unternehmen zu tun. Das System der sogenannten Steuerzerlegung sorgt zudem dafür, dass Steueraufkommen stark den Unternehmenszentralen zugerechnet werden. Zwar bringen Ostdeutsche, die in westdeutsche Länder pendeln, zusätzliche Einkommensteuereinnahmen in den Osten, dies kann aber die strukturelle Schieflage nicht ausgleichen. Die Kombination aus geringeren Einkommen, fehlenden Unternehmenszentralen und einer weniger widerstandsfähigen Gewerbestruktur ist ziemlich spezifisch ostdeutsch und wird durch die Regelungen, wie die Steuern erhoben und verteilt werden, noch verstärkt. Insofern ist nicht damit zu rechnen, dass sich hieran schnell etwas ändert.

Der Solidarpakt II ist 2019 ausgelaufen. Dadurch reduzierten sich die Einnahmen Ostdeutschlands aus dem Bundesfinanzausgleich merklich. Wird das Ostdeutschland wirtschaftlich wieder zurückwerfen?

In der Tat ist 2019 die letzte Scheibe des Solidarpakts II ausgezahlt worden, der seit 2005 die ostdeutschen Länder unterstützte. Sie fallen aber ab 2020 nicht ins Bodenlose. Vielmehr gab es eine umfassende Reform des Bund-Länder-Finanzausgleichs, in deren Rahmen auch die ostdeutschen Länder profitierten. Seit diesem Jahr 2020 gibt es zwar keine spezifischen Ost-Zuweisungen mehr. Es sind jedoch Zuweisungen für strukturschwache Länder vorgesehen, die maßgeblich an die ostdeutschen Länder fließen. Die ostdeutschen Länder und Kommunen hängen damit direkt am Puls der gesamtstaatlichen Entwicklung. Dies ist einerseits gut, da sie in ihrer Einnahmenausstattung nicht zurückfallen können. Andererseits fällt es auch schwerer, dieser allseitigen Verbundenheit zu entkommen und durch eigenes Wachstum stärker auf eigenen Füßen zu stehen. Föderale Solidarität ist hier ein zweiseitiges Konzept und keine Einbahnstraße. Leider sind derzeit durch die Folgen der Corona-Pandemie alle Haushalte im Krisenmodus und man kann diese stützenden Effekte für den Osten nicht besonders gut erkennen.

Wann, denken Sie, könnten Ost- und Westdeutschland wirtschaftlich annähernd auf einem Niveau sein? 

Ich denke, dass es einigen Regionen gelingen kann, wirtschaftlich an das westdeutsche Niveau aufzuschließen. Berlin, Dresden, Leipzig oder Jena sind hier bereits auf einem guten Weg und drauf und dran, wirtschaftlich schwächere West-Metropolen zu überholen. Zur Wahrheit gehört allerdings, dass auch in Westdeutschland enorme Unterschiede zwischen Nord und Süd, zwischen Stadt und Land oder zwischen dem Ruhrgebiet und dem Raum München bestehen. Aus dieser Perspektive müssen wir uns darauf einstellen, dass bestimmte Regionen in Ostdeutschland dauerhaft wirtschaftlich schwächer bleiben. Das heißt nicht, dass die Lebensqualität dort schlechter sein muss. Wir orientieren uns in Deutschland stark nach einer Idee der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Danach ist es wichtig, auch in schwächeren Regionen wichtige Leistungen der Daseinsvorsorge, also der Infrastruktur, des Gesundheits- oder Bildungssystems zur Verfügung zu stellen. Wenn dies gesichert ist, kann man auch gut damit leben, wenn gewisse wirtschaftliche Unterschiede bestehen bleiben.

Hinweis:
Zu verschiedenen Aspekten anlässlich des 30. Jahrestages der Deutschen Einheit haben sich auch andere Wissenschaftler der Universität Leipzig geäußert, unter anderem: