Warum ein Politologe aus Kanada ausgerechnet nach Leipzig kommt, um über China zu forschen? Für Laliberté liegt die Antwort auf der Hand: „Hier arbeiten einige der besten Experten und Expertinnen in diesem Bereich. Sie forschen zu Themen, die so vor Ort gar nicht bearbeitet werden könnten.“ Der Gastwissenschaftler musste daher nicht lange überlegen, ob er die Einladung nach Leipzig annimmt: „Es ist ein Privileg, Teil dieses Teams sein zu dürfen“, sagt der Kanadier mit gewinnendem Lächeln und ergänzt: „Ich freue mich, hier so viele gleichgesinnte Kolleginnen und Kollegen zu finden, die meine Forschung durch ihre Expertise voranbringen.“
Christoph Kleine freut sich, dass die Humboldt-Stiftung seinem Vorschlag gefolgt ist: „André Laliberté ist ein hochkarätiger Spitzenforscher, der in der Blüte seiner Karriere steht. Er arbeitet äußerst effektiv und forscht dabei in und zwischen verschiedenen kulturellen, sprachlichen und akademischen Gemeinschaften. Mit seinen Untersuchungen über die Wechselbeziehungen von Religionen und Politik in China und Taiwan hat er sich eine einzigartige Nische herausgearbeitet.“
In seiner Heimatuniversität in Ottawa lehrt und forscht André Laliberté als Professor der Politikwissenschaften auf Französisch und Englisch über chinesische (Religions-)Politik. Außerdem spricht er fließend Chinesisch – im Vergleich zu vielen seiner westlichen Fachkollegen ein entscheidender Vorteil, denn dadurch kann er nicht nur selbst direkt an chinesischen Quellen forschen, sondern sich vor allem auch auf Augenhöhe mit chinesischen Wissenschaftlern austauschen. Sein Forschungsgebiet umfasst neben China auch Korea und Taiwan als Staaten mit starken kulturellen chinesischen Wurzeln.
Besonders interessiert sich André Laliberté für das gespaltene Verhältnis chinesischer Gesellschaften zur Religion: Einerseits zielt die politische Ordnung auf die klare Trennung von Religion und Politik ab, wobei Religion sich der staatlichen Ordnung in der Regel unterordnen soll. Andererseits unternehmen die Regierungen aber erhebliche Anstrengungen, die religiöse Landschaft so zu gestalten, dass sie einer Vielzahl von politischen Zielen dient. Doch das geschieht nicht ohne Grund, glaubt Laliberté. Einer seiner Forschungsschwerpunkte liegt auf der Wohlfahrtspolitik chinesischer Gesellschaften, besonders im Bereich der Altenpflege. Die alternden Gesellschaften und das verzerrte Geschlechterverhältnis durch die Bevorzugung von Jungen im Vergleich zu Mädchen bei der Geburt stellen hier große Herausforderungen dar.
Mit großem Interesse beobachtet Laliberté einen kulturellen Wandel: Der Staat ist in chinesischen Gesellschaften häufig auf religiöse Institutionen angewiesen, wenn es darum geht, Menschen zu unterstützen, die nicht auf den Beistand durch ihre Familie hoffen dürfen. Daher unterstützen die Regierungen beispielsweise den Konfuzianismus als kulturelles Erbe immer offener, was etwa in starkem Kontrast zur repressiven chinesischen Religionspolitik des 20. Jahrhunderts steht. Mit diesem Untersuchungsgegenstand schließt André Laliberté eine Forschungslücke, denn die Fachliteratur, die sich bislang mit Wohlfahrtsstaatlichkeit in Ostasien befasst, schweigt weitestgehend zur Rolle der Religion.
In seiner China-Forschung sieht Laliberté auch die Chance, Menschenrechtsverletzungen nachhaltig einzudämmen. „Wenn wir China als Kultur besser verstehen, können wir die Positionen der chinesischen Regierung zu den Menschenrechten besser in Frage stellen.“ Der Kanadier kritisiert den engen Fokus westlicher Regierungen auf handelspolitische und strategische Fragen, wenn es um China geht, denn er hat den Eindruck, dass mit Verweis auf kulturelle Unterschiede zu westlichen Gesellschaften Menschenrechtsverletzungen legitimiert werden: „Wenn unsere westlichen Regierungen China nach den Menschenrechten oder der Misshandlung von Menschen aufgrund ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit befragen, akzeptieren viele die Antwort der chinesischen Regierung, dass wir sie nicht an denselben Standards messen sollen wie westliche Staaten. Doch ich persönlich halte dieses Argument für rassistisch und bin der Überzeugung, dass China vielmehr mit dem Rest der Welt gemeinsam hat, als die chinesische Regierung zugeben möchte“, erklärt Laliberté. „Das chinesische Volk verdient, wie jedes andere Volk, die Achtung seiner Grundrechte,“ so Laliberté weiter.
Für die Universität Leipzig ist der Forschungsaufenthalt des kanadischen China-Experten ein Glücksfall, sagt Christoph Kleine: „André Laliberté ist in der internationalen Wissenschaftscommunity bestens vernetzt. Seine akademische Ausrichtung mit der Spezialisierung auf chinesische Gesellschaften passt perfekt zu unserem Forschungsprofil, da sich China zu einem unserer Schwerpunktthemen entwickelt.“ Die Leipziger Kolleg-Forschungsgruppe um den Religionswissenschaftlicher Christoph Kleine und die Kultursoziologin Prof. Dr. Monika Wohlrab-Sahr untersucht, wie nicht-westliche und vor-moderne Gesellschaften zwischen Religiösem und Säkularem unterscheiden.
Bereits als Kind war der im kanadischen Montreal aufgewachsene Laliberté von der Geschichte Chinas mit ihren Tragödien und Erfolgen fasziniert – besonders von der Tatsache, dass diese Gesellschaft sehr gut ohne den Glauben an nur einen Gott auszukommen schien, so wie es in westlichen Gesellschaften verbreitet ist. Nach seinem Studium an renommierten Universitäten in Kanada führten ihn Forschungsaufenthalte in die USA, nach China, Frankreich, Taiwan und jetzt nach Deutschland. In Leipzig ist er bereits zum fünften Mal, aber sein Gastaufenthalt als Preisträger des Konrad Adenauer-Forschungspreises ist der erste längere Zeitraum.
Mit der jährlichen Auszeichnung möchte die Humboldt-Stiftung den Austausch und die Zusammenarbeit mit kanadischen Wissenschaftlern fördern. „Der Preis bedeutet mir sehr viel, denn es ist wichtig, diese Art von Beziehungen zu fördern. Kanadier denken allzu oft im Vergleich mit den USA, dabei hat Kanada in wichtigen Fragen auch viele Gemeinsamkeiten mit Deutschland“, sagt Laliberté und nennt als Beispiele den Klimaschutz oder die Gleichberechtigung der Geschlechter in Politik und Gesellschaft. In Leipzig fühlt er sich wohl. Besonders schätzt er das kollegiale Umfeld sowie die Offenheit der Universität Leipzig für internationale Forschende. Englisch als gemeinsame, für alle zugängliche Arbeitssprache sei hier vollkommen selbstverständlich. „Mit einigen meiner Kolleginnen und Kollegen kann ich mich sogar auf Französisch und Mandarin unterhalten“, berichtet Laliberté. Dafür möchte sich der ehrgeizige Wissenschaftler gern revanchieren und hat sich neben seiner fachlichen Weiterentwicklung ein weiteres Ziel gesetzt: Deutsch lernen.
Mit dem Preisgeld wird der kanadische Politikprofessor seinen ursprünglich bis Ende Juni geplanten Forschungsaufenthalt bis Mitte Dezember verlängern. Außerdem plant er bereits einen erneuten Forschungsaufenthalt in Leipzig für das kommende Jahr.
Kolleg-Forschungsgruppe "Multiple Secularities - Beyond the West, Beyond Modernities"
Die Kolleg-Forschungsgruppe “Multiple Secularities” untersucht unterschiedliche Arrangements der Säkularität – der Trennung des „Religiösen“ vom „Weltlichen“ – in Kulturkreisen außerhalb der westlichen modernen Welt. Auf diese Weise wollen die Forscher die damit einhergehenden Konflikte um Deutungsmacht und Geltungsansprüche in verschiedenen Regionen der Welt nachvollziehen.