Nachricht vom

Nach rund drei Jahren Vorbereitungszeit werden ab Ende Juni Beobachtungen starten, die für die Untersuchung der Atmosphäre in der Arktis eine wichtige Rolle spielen: Die routinemäßigen Fesselballonmessungen der internationalen MOSAiC-Expedition werden jetzt erstmals durch einen mit 90 Kubikmetern erheblich größeren Ballon ergänzt, der Wolken und atmosphärische Strahlung bis in eineinhalb Kilometer über dem Eis messen kann. Das System wurde vom Leibniz-Institut für Troposphärenforschung (TROPOS) und der Universität Leipzig vorbereitet, bereits 2017 auf einer Polarstern-Expedition in der Arktis eingesetzt und dabei erfolgreich getestet. Der Fesselballon wird während der Schmelzphase im arktischen Frühsommer eine wichtige Plattform für die Atmosphärenmessungen bei MOSAiC über der Eisscholle sein, auch weil die ursprünglich geplanten Messungen mit Flugzeugen von Spitzbergen aus wegen der Corona-Pandemie ausgesetzt werden mussten.

Mit den Messungen tragen Forschende aus Sachsen dazu bei, herauszufinden, weshalb sich die Atmosphäre in der Arktis deutlich stärker erwärmt als in anderen Regionen der Erde und wie schnell der Klimawandel rund um den Nordpol ablaufen wird. "Die Daten, die mit den Messungen von TROPOS und der Universität Leipzig in der Arktis während der MOSAiC-Expedition gesammelt werden, sind ein wichtiger Baustein in der internationalen Klimaforschung“, sagt Sachsens Wissenschaftsminister Sebastian Gemkow. „Wolken sind der größte Unsicherheitsfaktor in den Klimaszenarien für die Zukunft und Leipzig hat sich aufgrund der großen Expertise vor Ort in den letzten Jahren zu einem wichtigen Player in der Wolkenforschung entwickelt.“

So wird beispielsweise der deutsche Beitrag zur Europäischen Forschungsinfrastruktur für Aerosol, Wolken und Spurengase (ACTRIS) vom TROPOS aus koordiniert. Der Sonderforschungsbereich „Arktische Klimaänderung (AC)³“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unter der Federführung der Universität Leipzig ist ein wesentlicher Bestandteil der aktuellen Arktis-Expedition. Die Wissenschaftler untersuchen seit 2016, welchen Anteil Wolken und die damit verbundenen Prozesse in der Atmosphäre daran haben, dass sich die Arktis so stark erwärmt wie keine andere Region der Erde und zu einem "Hotspot" des Klimawandels geworden ist. „Die MOSAiC-Expedition ist auch für uns eine einmalige Gelegenheit, die komplexen Rückkopplungsmechanismen zwischen Ozean, Meereis und Atmosphäre besser zu verstehen, weil bei der Expedition viele Disziplinen eng mit einander arbeiten. 18 von 20 wissenschaftlichen Projekten des Sonderforschungsbereichs beteiligen sich deshalb an der Datengewinnung und Auswertung von MOSAiC. Die DFG unterstützt die Expedition mit erheblichen finanziellen Mitteln“, unterstreicht Prof. Manfred Wendisch, Direktor des Instituts für Meteorologie der Universität Leipzig, der Sprecher des Sonderforschungsbereiches der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist.  

Der „schwebende Weißwal“

Für den Personalwechsel hat das Forschungsschiff Polarstern Mitte Mai ihre seit Oktober 2019 benutzte Eisscholle vorerst in Richtung Spitzbergen verlassen. Sobald das neue Team vom Fahrtabschnitt vier übernommen hat und 14 Tonnen Verpflegung an Bord verstaut sind, wird es von Spitzbergen aus zurück ins Eis gehen. Je nach Zustand der Eisscholle gehen die Beobachtungen dann auf der alten Scholle weiter, oder die Polarstern geht auf die Suche nach einer neuen festeren Scholle für die nächsten Monate. Die Scholle wird dann wieder mit diversen Instrumenten ausgestattet werden. Seit Beginn der Expedition werden auch Messungen mit einem kleineren Fesselballon des Alfred-Wegener-Instituts durchgeführt. Erstmals wird dieser nun durch einen 14 Meter langen Fesselballon ergänzt, der durch ein aus- und einrollbares Seil an den Boden festgemacht („gefesselt“) ist und bis in 1.500 Meter Höhe aufsteigen kann. Der Ballon, inklusive der an ihm angehängten Messinstrumente, wurde auf den Namen BELUGA getauft, weil der Fesselballon einem Weißwal ähnelt. BELUGA steht für „Balloon-bornE moduLar Utility for profilinG the lower Atmosphere“ – also eine Trägerplattform, mit der Geräte vom Boden in die untere Atmosphäre transportiert werden. Sein Volumen von 90 Kubikmetern ermöglicht Geräte-Nutzlasten bis zu 20 Kilogramm, die an einem zusätzlichen drei Kilometer langen und vier Millimeter dünnen Spezialseil eingehängt werden. Als Nutzlasten sind verschiedene speziell konstruierte Sonden und Sammler geplant zur Messung von Turbulenz (TROPOS), atmosphärischer Strahlung (Universität Leipzig), Wolkenmikrophysik (Universität Leipzig & TROPOS), Aerosol (TROPOS), Wolkenwasser (Universität Stockholm in Kooperation mit TROPOS), Partikelfilter (TROPOS) sowie weitere Sonden vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) und dem British Antarctic Survey (BAS). Eine quaderförmige Aerosol-Box („CAMP – Cubic Aerosol Measurement Platform“) wird den Rußgehalt in der arktischen Atmosphäre messen. TROPOS und die Universität Leipzig kooperieren dabei eng mit der TU Braunschweig, welche ähnliche Messgeräte auf ihrer Hubschrauber-Schleppsonde Helipod installiert hat. Dadurch wird der Fesselballon zu einer wichtigen Messplattform, um die für Erwärmung der Arktis so wichtige untere Schicht der Atmosphäre mit ihren tiefen Wolken zu untersuchen.

Der Fesselballon wurde von einer Augsburger Spezialfirma gebaut. Durch neue Materialien kann eine überarbeitete Version jetzt gegenüber 2017 das doppelte Gewicht transportieren. Der vorher benutzte Ballon wurde im Winter 2018/19 und der neue im Sommer 2019 in Melpitz bei Leipzig ausgiebig getestet. Beide sind seit Start der Polarstern im September 2019 an Bord und warten auf ihren Einsatz.   

Bei MOSAiC kam bisher ein kleinerer Fesselballon des AWIs zum Einsatz. „Miss Piggy“ kann Nutzlasten bis vier Kilogramm tragen – darunter einen Turbulenzsensor vom TROPOS: „Erste Daten wurden uns bereits im Februar vom AWI übermittelt. Das System hat die kalten und rauen Bedingungen der Polarnacht gut gemeistert und wertvolle, hochaufgelöste Daten geliefert. Extrem turbulenzarme Höhenbereiche wechseln sich mit gut durchmischten Schichten ab und führen somit zu einer sehr komplexen Schichtung der unteren 100 Meter der atmosphärischen Grenzschicht während der Polarnacht“, berichtet Dr. Holger Siebert vom TROPOS.

Arktis-Test vor drei Jahren

Seine Premiere erlebte der große Vorgängerballon 2017: Unter Leitung von Prof. Andreas Macke, Direktor des TROPOS, fand damals die Polarstern-Expedition PS106.1 statt, bei der der deutsche Forschungseisbrecher bereits drei Wochen an einer Eisscholle durch die Arktis bei Spitzbergen driftete. Im Projekt PASCAL (Physical feedbacks of Arctic PBL, Seaice, Cloud And Aerosol), im Rahmen des Sonderforschungsbereiches „Arktische Klimaänderung (AC)³“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), wurden damals Zusammenhänge zwischen Meereis, Wolken und Aerosol in der Übergangszone zwischen offenem Ozean und Meereis untersucht, um mehr über die Abnahme des arktischen Meereises im Sommer zu erfahren. Dabei wurden auch Bausteine für die jetzige MOSAiC-Expedition getestet - darunter auch der Ballon. „Wir haben seitdem noch viele kleine Details optimiert, um die bodennahen Luftschichten möglichst genau auszumessen. Aber das Prinzip hat sich bewährt und macht uns optimistisch, dass wir damit einen wichtigen Beitrag leisten können, um besser zu verstehen, woraus und wie sich die Wolken in der Arktis bilden. Und das wird helfen, damit wir später mehr über die Rolle der Wolken beim dramatischen Schmelzen der Arktis wissen“, erklärt Andreas Macke.

Von unten nach oben und wieder zurück

Der große Ballon ist dabei ein wichtiges Glied in einer langen Kette von sehr aufwendigen Messungen, mit der das Entstehen der Wolken erforscht wird. Mit dem Aufbrechen des Eises im Frühjahr nimmt die Dynamik in der Atmosphäre der Arktis deutlich an Fahrt auf. Aus dem Wasser des Ozeans treten Partikel und Gase aus, aus denen sich Tröpfchen und schließlich Wolken bilden, die dann die atmosphärische Strahlung und Temperatur beeinflussen. Je nach Höhe und Zusammensetzung können diese Wolken kühlen oder den Klimawandel beschleunigen. „Deshalb ist es wichtig, dass wir die ganze Kette vom Meerwasser bis hin zu den Wolken untersuchen. Dazu werde Proben aus dem Wasser, vom Oberflächenfilm und aus der Luft genommen, um herauszufinden, welche organischen Bestandteile aus dem Ozean die Atmosphäre beeinflussen. Zusammen mit der Universität Stockholm wollen wir unter anderem mit einem kleinen Sammler am Ballon auch das Wolkenwasser ‚einfangen‘. Ziel ist es, die marinen Zucker aus dem Ozean und Eiskeime im Wolkenwasser zu messen“, erklärt Dr. Manuela van Pinxteren vom TROPOS, die zum Oberflächenfilm forscht und sich auf die Auswertung der Proben ab Herbst im Labor in Leipzig freut. Dann steht auch ein Vergleich zwischen dem tropischen und arktischen Atlantik an, denn 2017 gab es bereits ähnliche Messungen auf den Kapverdische Inseln. Die interdisziplinäre MOSAiC-Expedition bietet durch viele beteiligte Disziplinen die große Chance, die sehr komplexen Wechselwirkungen zwischen der Biologie im Ozean, dem Schmelzen des Meereises und der Erwärmung der Atmosphäre besser zu verstehen.

Einmalige Langzeitbeobachtung der Atmosphäre per Laser

Während die Experimente auf der Eisscholle stark vom Wetter und vom Schmelzen des Eises abhängen, sind die Messungen an Bord der Polarstern sozusagen der feste Fels in der Brandung. Seit Beginn der Expedition wird die Atmosphäre vom Vordeck des Eisbrechers aus untersucht: Forschende vom Cooperative Institute for Research in Environmental Sciences (CIRES) in den USA und vom TROPOS erkunden die Atmosphäre vom Boden aus mit Fernerkundungsmethoden wie Radar und Lidar. TROPOS betreibt dabei ein solches Lidar – ein Licht-Radar, das mit Laser-Pulsen vom Boden aus Staubpartikel bis weit hinauf in die polare Stratosphäre (15 bis 17 Kilometer Höhe) messen kann. MOSAiC brachte hier eine Premiere: Erstmals kam ein Mehrwellenlängen-Lidar während der Polarnacht in der zentralen Arktis zum Einsatz und zeigte mehrere Schichten mit Rauch. Der Rauch stammt offenbar aus menschlichen Quellen und vor allem von Waldbränden in den borealen Wäldern rund um die Arktis. Besonders in Sibirien war der letzte Winter außergewöhnlich warm und das Frühjahr sehr trocken. Medienberichten zufolge hat das Ausmaß der Brände dort 2019/20 Rekordweite erreicht und sich gegenüber dem vorigen Frühjahr verzehnfacht. Die Folgen sind in der Atmosphäre am Nordpol lange zu spüren – bis in den Polarwinter hinein. „Die Auswertung läuft noch. Uns hat es überrascht, wie stabil diese Schichten über mehr als sechs Monate über dem Nordpol schweben. So hat das vor uns bisher kein Mensch sehen können, weil noch niemand unter diesen extremen Bedingungen der Polarnacht mit solchen Geräten im Herzen der Arktis gemessen hat“, unterstreicht Dr. Albert Ansmann, der die Lidar-Gruppe am TROPOS und damit Messungen weltweit leitet. Und Dr. Matthew Shupe (CIRES, University of Colorado and NOAA-ESRL), der Co-Leiter des kommenden Expeditionsabschnittes und auch Co-Leiter des Atmosphären-Team von ganz MOSAiC ist, ergänzt: „Wir sind stolz darauf, führende Forschungsgruppen weltweit zusammenzubringen, während wir mit MOSAiC fortfahren. Beim Übergang in den Sommer werden wir aufregende neue Möglichkeiten haben, die vertikale atmosphärische Struktur, Aerosolprofile, Strahlungseffekte von Wolken und vieles mehr von einem großen Fesselballon aus zu messen. Zusammen werden diese Messungen wichtige neue Erkenntnisse über die sich verändernde Arktis liefern.“

Eine Expedition der Superlative

Um alle Forschungsschwerpunkte ein Jahr lang untersuchen zu können, ist ein enormer logistischer Aufwand nötig: Die MOSAiC-Expedition unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) ist verbunden mit noch nie dagewesenen Herausforderungen. Eine internationale Flotte von vier Eisbrechern versorgt das Team auf dieser extremen Route. Insgesamt 600 internationale Teilnehmer, davon die Hälfte Wissenschaftler, werden die Mission begleiten. Das Budget der Expedition beträgt rund 140 Millionen Euro. Im Laufe des Jahres werden etwa 300 Wissenschaftler von Institutionen aus 29 Nationen an Bord sein.

Die Fragen, denen die Forscher während der Expedition nachgehen wollen, sind eng miteinander verknüpft. Zusammen wollen sie zum ersten Mal das gesamte Klimasystem in der Zentralarktis erforschen. Sie erheben Daten in den fünf Teilbereichen Atmosphäre, Meereis, Ozean, Ökosystem und Biogeochemie, um die Wechselwirkungen zu verstehen, die das arktische Klima und das Leben im Nordpolarmeer prägen. „Diese Expedition ist bahnbrechend. Niemals zuvor gab es eine derart komplexe Arktisexpedition. Erstmals haben wir die Klimaprozesse der Zentralarktis im Winter vermessen. Die Arktis ist die Wetterküche für unser Wetter in Europa. Extremwetterlagen wie winterliche Ausbrüche arktischer Kaltluft bis zu uns oder extrem heiße Phasen im Sommer hängen auch mit den Veränderungen der Arktis zusammen“, erklärt Expeditions- und Projektleiter Prof. Markus Rex vom Alfred-Wegener-Institut.

Die Expedition zum Miterleben für alle

Neuigkeiten direkt aus der Arktis gibt es über die MOSAiC-Kanäle auf Twitter (@MOSAiCArctic) und Instagram (@mosaic_expedition) über die Hashtags #MOSAiCexpedition, #Arctic und #icedrift. Weitere Informationen zur Expedition auf: www.mosaic-expedition.org. In der MOSAiC-Web-App kann die Driftroute der Polarstern zudem live mitverfolgt werden: follow.mosaic-expedition.org