Pressemitteilung 2023/030 vom

Kinder und Jugendliche sollen in der Schule Wissen über Religionen und religiöse Traditionen erlangen, und das auch aus einer nicht-religiösen Perspektive – so sehen es fast alle Lehrpläne in Deutschland vor. Allerdings wird dieses Ziel einer religionskundlichen Grundbildung laut einer Untersuchung von Wissenschaftler:innen der Universitäten Leipzig und Hannover nicht immer konsequent umgesetzt. Zudem haben die Forscher:innen große regionale Unterschiede zwischen den Bundesländern identifiziert. Religionswissenschaftlerin Dr. Katharina Neef von der Universität Leipzig erklärt im Interview die Befunde.

Frau Dr. Neef, Sie und Ihre Kolleg:innen haben untersucht, welche Rolle Religionskunde an deutschen Schulen spielt. Wie verbreitet ist Unterricht, in dem Schüler:innen etwas über Religionen lernen, der aber nicht an eine bestimmte Konfession gebunden ist?

Dr. Katharina Neef: Auf diese Frage gibt es zwei Antworten: eine einfache und eine etwas komplexere. Einfach gesagt gibt es in fast allen deutschen Bundesländern ein Fach für Schüler:innen, die aus Gewissensgründen vom konfessionellen Religionsunterricht abgemeldet sind – ein sogenanntes „Ersatzfach“. In den alten Bundesländern gibt es diese Fächer seit den 1970er Jahren, in den neuen Bundesländern seit Anfang der 1990er Jahre. Und fast alle Lehrpläne sehen hier eine religionskundliche Grundbildung vor, das heißt die Vermittlung von Kenntnissen über große religiöse Traditionen und Religion aus einer nicht-religiösen Perspektive. Letzteres ist insofern wichtig, als dass so eine negative Religionsfreiheit umgesetzt wird: Während der Religionsunterricht einen Raum für das religiöse Bekenntnis eröffnet, bietet der Ethikunterricht einen Raum für diejenigen, die das nicht möchten.

Die komplexere Antwort lautet, dass diese Unterrichte bis heute nicht in allen Bundesländern konsequent umgesetzt sind. Während zum Beispiel in den meisten neuen Ländern Ethik von der 1. bis zur 12. Klasse angeboten wird, bieten manche Bundesländer in der Grundschule keinen Ersatz an und betroffene Kinder werden gar nicht oder „irgendwie“ beschult. 

Unser Handbuch zeigt zudem sehr anschaulich, dass Ausmaß und Weise, wie über Religion gesprochen wird, sehr unterschiedlich sind. Das spiegelt sich auch in der Lehramtsausbildung, in der religionskundliche Inhalte zum Teil gar nicht oder nur sehr marginal vorkommen. Aber von den Lehrkräften wird dann erwartet, dass sie später den ganzen Lehrplan umsetzen.

In Ihrem Buch wird die Situation des Religionskunde-Unterrichts für jedes Bundesland noch einmal separat analysiert. Wie groß sind die regionalen Unterschiede und worauf führen Sie diese zurück? 

Das klang schon an: Die regionalen Unterschiede sind enorm. Salopp gesprochen haben wir 16 Bundesländer und 17 Regelungen … Während der Religionsunterricht ja grundgesetzlich verbürgt ist (Artikel 7), sind die Ethikunterrichte Ländersache. Und hier entwickelten sich unterschiedliche Pfade: In den westdeutschen Flächenländern sehen wir eher einen Trend zur Diversifizierung, hier wurde eine Vielzahl von Religionsunterrichten für religiöse Minderheiten eingeführt (zum Beispiel freireligiöser, alevitischer, christlich-orthodoxer oder mennonitischer Unterricht) – im Gegenzug ist der Ethikunterricht als Alternative zum Religionsunterricht nicht weiter gestärkt worden. Trotz der Einführung dieser Fächer in den 1970ern wurden entsprechende Lehramtsstudiengänge teilweise erst in den 1990er Jahren oder nach der Jahrtausendwende eingeführt und Lehrkräfte unterrichteten bis dahin oft fachfremd oder der Unterricht fiel ganz aus. 

In den neuen Bundesländern war die Situation anders, da hier die Abmeldequote erwartungsgemäß so hoch war, dass man einen vollwertigen Ersatz anbieten musste – in Sachsen etwa besuchen zirka drei Viertel der Kinder und Jugendlichen den Ethikunterricht. Und obgleich Religionskunde, also die Information über Religionen, einen wichtigen Teil des Lehrplans ausmacht, werden diese Kenntnisse in den Studiengängen nur wenig vermittelt, und es zeigt sich in der Praxis oft sehr viel Unsicherheit darüber, über Religion(en) zu sprechen. 

Im Klappentext Ihres Handbuches ist zu lesen, dass Religionskunde im deutschen Schulsystem theoretisch zwar eingefordert wird, praktisch aber weitgehend eine Leerstelle darstellt. Was würden Sie sich diesbezüglich von der Bildungspolitik wünschen?

In Zeiten des umfassenden Lehrkräftemangels kann man sich viel wünschen – und muss wohl erst einmal froh sein, wenn vor den Klassen ausgebildete Lehrkräfte stehen.

Aber wenn Sie so fragen, dann wünschen wir uns zweierlei: zunächst eine Abkehr von der „Ersatzfach“-Rhetorik. Diese ist noch zu sehr der Situation der „alten Bundesrepublik“ verhaftet, in der in manchen Regionen diese Angebote tatsächlich nur Einzelfälle ansprachen. Mittlerweile sprechen sie einen signifikanten Teil der Bevölkerung an. 

Und zum Zweiten wünschen wir uns die Erkenntnis, dass, wenn Religion schon einmal Gegenstand dieser Fächer ist, dieser auch produktiv eingebunden wird. In vielen Fachkonzepten bleibt Religion etwas sehr Altes, Fremdes oder sogar Skurriles, zum Beispiel wenn über Gottesbeweise gesprochen wird oder Islam und Buddhismus als exotische, fremde Religionen präsentiert werden. Ein religionskundlich informierter Zugang dagegen nimmt Religionen als Teil von Lebenswelten in konkreten Gesellschaften ernst, er begreift sie nicht nur als geistige, sondern auch als soziale Phänomene und bietet so auch die Möglichkeit, die Dinge aus mehreren Perspektiven zu betrachten – eine wichtige Bedingung für die auch oft in den Fächern angestrebte Toleranzerziehung.

 

Dr. Katharina Neef ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig. Sie forscht unter anderem zum Zusammenhang zwischen Religion und Politik und zur Formierung religionsbezogener Unterrichte in den deutschen Bildungssystemen. Gemeinsam mit Fachkolleg:innen von der Universität Hannover hat sie das „Handbuch Religionskunde in Deutschland“ (doi.org/10.1515/9783110694536) herausgebracht, das jetzt neu erschienen ist. Wissenschaftler:innen analysierten für den Band unter anderem die Lehrpläne für Schulen und die Inhalte der Lehrer:innenausbildung in den Bundesländern, untersuchten Gesetzestexte und zeichneten historische Entwicklungen und politische Debatten zur Einrichtung der Fächer nach.