Pressemitteilung 2021/230 vom

Die Erfahrung von Vernachlässigung oder Gewalt in der Kindheit hat häufig schwerwiegende Folgen für die Betroffenen. Soziale und strukturelle Faktoren, die den Schutz von Kindern und Jugendlichen verbessern, sind noch unzureichend erforscht. Unter der Leitung von Georg Schomerus, Professor für Psychiatrie an der Universität Leipzig und Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Uniklinikum Leipzig, wurde nun eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass Menschen aus Gebieten der alten Bundesrepublik häufiger von traumatisierenden Erfahrungen berichten, als Personen der ehemaligen DDR.

„Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass ein Aufwachsen im Osten mit einem geringeren Traumatisierungsrisiko verbunden war als ein Aufwachsen im Westen“, sagt Dr. Christine Ulke, Wissenschaftlerin und Ärztin der Leipziger Universitätsmedizin sowie Erstautorin der aktuellen Studie, die in der Zeitschrift Epidemiology and Psychiatric Sciences veröffentlicht wurde. „Bei innerdeutschen Vergleichen ist in der Regel der Westen die Norm, und der Osten wird als Abweichung untersucht“, sagt Prof. Schomerus und erklärt: „Das ist aber nicht immer zielführend. In Bezug auf Kindesmisshandlung gab es möglicherweise im ostdeutschen System Faktoren, die schützend für die Kinder waren und die im Westen weniger stark ausgeprägt waren.“ 

In einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojekt (DDR Psych) haben die Wissenschaftler:innen den sozialen und politischen Kontext als Risiko und Schutzfaktor für mentale Gesundheit untersucht und dabei die Opfer von Kindesmisshandlung in den Blick genommen. Die Arbeitsgruppe konnte dafür auf mehrere bevölkerungsrepräsentative Befragungen aus den Jahren 2010, 2013 und 2016 zugreifen, die durch ein unabhängiges Institut für Meinungs- und Sozialforschung (USUMA, Berlin) im Auftrag von Prof. Elmar Brähler der Universität Leipzig durchgeführt worden waren. Über 5800 Teilnehmer:innen aus ganz Deutschland, 1980 oder davor geboren, wurden in der aktuellen Studie eingeschlossen. Mithilfe der Daten wurde untersucht, ob das Auftreten von emotionaler, körperlicher und sexueller Gewalt, sowie emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zusammenhängt. Mit dem Childhood Trauma Screener, einem zuverlässigen Fragebogen zur Erfassung traumatischer Ereignisse in der Kindheit und Jugend, wurde dafür ein etabliertes Instrument eingesetzt. 

Gesetzliche Maßnahmen wirksam für die Prävention von Gewalterfahrung im Kindesalter

„Befragte aus den westlichen Bundesländern berichteten häufiger über relevante körperliche und sexuelle Gewalt in der Kindheit, Frauen aus Westdeutschland zudem über mehr emotionale Gewalt und Vernachlässigung“, sagt Dr. Ulke. Diese zunächst überraschenden Befunde bringen die Wissenschaftler:innen mit einer Reihe von sozio-politischen Faktoren in Verbindung, die im Osten möglicherweise gewaltpräventiv gewirkt haben. Zum Beispiel die gesetzlichen Rahmenbedingungen. „So wurde körperliche Gewalt als erzieherische Maßnahme in der DDR sowohl an Schulen, wie auch im Privaten, mit der Staatsgründung verboten. In der BRD hingegen hielt sich die ‚Körperstrafe‘ an Schulen noch bis in die 1980er Jahre“, erinnert Dr. Sven Speerforck, Seniorautor der Studie. Das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung in Deutschland existiert erst seit November 2000 mit der Änderung des Paragrafen 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuchs.

Als weitere Gründe nennen die Forscher:innen die größere wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen in der DDR, die auch aufgrund der umfassenden Kinderbetreuung gewalttätige Beziehungen leichter hätten verlassen können. „Auch wenn Frauen in der DDR den Großteil der Hausarbeit erledigten, wurde von staatlicher Seite mehr unternommen, um die Gleichstellung der Geschlechter durchzusetzen“, sagt Dr. Ulke.

„Bei diesen Befunden darf man auf keinen Fall vergessen, dass es in der DDR auch schreckliche Kindheitsschicksale gab, die sehr durch das DDR-System und seine Institutionen geprägt waren. Diese Schicksale haben wir in unseren Analysen nicht erfasst, sondern übergreifend die Häufigkeiten bestimmter traumatischer Erlebnisse auf Bevölkerungsebene verglichen“, erklärt Prof. Schomerus. „Hier gibt es weiteren Forschungsbedarf. So untersuchen wir in einem anderen Forschungsprojekt die gesundheitlichen Langzeitfolgen der SED. Der Blick auf die Kindheit in der DDR ist jedoch einseitig, wenn er die schützenden Faktoren auf Bevölkerungsebene außer Acht lässt.“ Die Ergebnisse der Studie unterstützen die Annahme, dass gesetzliche Maßnahmen und Rahmenbedingungen wirksame Faktoren für die Prävention von Gewalterfahrung im Kindesalter sind, resümieren die Leipziger Wissenschaftler:innen. 

Originalpublikation: "Socio-political context as determinant of childhood maltreatment: a population-based study among women and men in East and West Germany". Epidemiology and Psychiatric Sciences. doi.org/10.1017/S2045796021000585.

Das Forschungsprojekt wurde im Rahmen des BMBF-geförderten Verbundprojekts DDR-PSYCH durchgeführt.