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Kinderbücher, zeitgenössische Romane und herrschaftskritische Perspektiven – gemeinsam mit gut 35 Studierenden untersucht Jun.-Prof. Dr. Nina Simon vom Herder-Institut, wie VerAnderungsprozesse in deutschsprachiger Literatur verhandelt werden und welche Rolle diese Texte im Literaturunterricht einnehmen können. „Für Unterricht, der nicht auf Affirmation, sondern auf Dekonstruktion abzielt, sind gesellschaftstheoretisch informierte Reflexionen unabdingbar“, sagt die Dozentin.

Fokus: Lehre. Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Seminar „Medien kulturbezogenen Lernens“ im Modul 04-004-2007 – eine von über 800 philologischen Lehrveranstaltungen im Wintersemester 2022/23.

Die Cultural Studies sind Simon in all ihren Lehrveranstaltungen wichtig: Seit April 2021 ist sie als Juniorprofessorin für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache mit dem Schwerpunkt Kulturstudien am Herder-Institut tätig. Die Auseinandersetzung mit herrschaftskritischen Perspektiven begleitet Nina Simon schon länger, promoviert hat sie zum Thema „Wissensbestände (be)herrschen(d). Zur (Un)Möglichkeit herrschaftskritischer (Deutsch)(Hochschul)Didaktik“.

Ihr aktuelles Seminar schließt daran an: Die Lehrveranstaltung konzentriert sich auf VerAnderungsprozesse (Englisch: Othering) in Literatur und Literaturunterricht in Kontexten des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache. Mit einer Gruppe von etwa 35 Studierenden, allesamt aus den Masterstudiengängen Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, untersucht Nina Simon, wie Fragen nach Identität und identitätsstiftenden Aspekten, Rassismus und struktureller Diskriminierung in zeitgenössischen, deutschsprachigen literarischen Texten verhandelt werden und was sich daraus für literaturdidaktische Belange ableiten lässt.

Die Werke, die Simon für ihr Seminar ausgewählt hat, wirken auf den ersten Blick unterschiedlich: So lesen die Studierenden beispielsweise den Roman Identitti der Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal, befassen sich aber auch mit dem Wendebuch für Kinder Ich bin anders als du – ich bin wie du von Constanze von Kitzing. „Allen Texten ist gemein, dass VerAnderungsprozesse thematisiert werden“, sagt Nina Simon. Dies, so Simon, geschehe jedoch auf unterschiedliche Weise, sodass die Texte auch unterschiedliche Zugriffe erfordern.

„Ich lehre Theorie nicht um der Theorie willen“, betont Nina Simon. „Die theoretische Perspektive, mit der wir uns im Seminar befassen, hat eine große gesellschaftliche Relevanz. Gerade für angehende Lehrkräfte ist es wichtig, sich mit theoretisch derart perspektivierten Analysen von gesellschaftlichen (Herrschafts-)Verhältnissen zu beschäftigen, um Unterricht zu gestalten, der zu einem kritischen Hinterfragen eben dieser Verhältnisse und zu Reflexionen über das eigene Involviertsein in diese Verhältnisse sowie das der jeweiligen Gegenüber anregt.“

Um im Seminar literaturdidaktische Überlegungen anzustellen, musste zunächst eine gemeinsame theoretische Perspektive erarbeitet werden. „Unsere Masterstudierenden kommen aus unterschiedlichen Bachelorstudiengängen und haben daher verschiedene Vorkenntnisse“, erklärt Nina Simon. Den Beginn der Lehrveranstaltung stellte deshalb eine Sitzung in Präsenz dar, die mehrere Seminareinheiten umfasste. So konnten sich die Studierenden auch persönlich kennenlernen: „Das erleichtert später die Arbeit im digitalen Raum“, erläutert Simon. Auch ein inhaltlicher Einstieg in das komplexe Thema, der in nur 90 Minuten kaum machbar ist, kann so besser gelingen, da ausreichend Zeit für Nachfragen und Diskussionen in verschiedenen Formaten bleibt.

Die Prämisse der Universität Leipzig, eine Präsenzuniversität im digitalen Zeitalter zu sein, setzt Nina Simon in ihrem Seminar geschickt um: Die Lehrveranstaltung findet weitgehend in Präsenz statt, wird aber von digitalen Einheiten begleitet. „Dadurch werden möglichst produktive und ergiebige Input- und Diskussionsräume geschaffen“, so die Studierenden. Nach den Corona-Semestern sind die Studierenden ohnehin mit digitalen Formaten und virtuellen Veranstaltungen vertraut. Daher war es unproblematisch, auch zwei Online-Lesungen mit anschließender Diskussion mit den Autorinnen zu organisieren. „Meine Kollegin Vesna Bjegač von der Ludwig-Maximilians-Universität München unterrichtet in diesem Semester ein ähnliches Seminar“, erzählt Simon. „So können unsere Studierenden alle an den Online-Lesungen teilnehmen und vom gegenseitigen Austausch profitieren.“

Die Studierenden wissen Simons Ansatz und ihren Einsatz unterschiedlicher Textsorten (in der Lehrveranstaltung) zu schätzen. Auch in der digitalen Lesung des Romans Identitti von Mithu Sanyal, moderiert von Simons wissenschaftlicher Hilfskraft Nada Al-Addous, diskutieren sie engagiert mit der Autorin. Sanyal betont, dass die deutschsprachige Literatur noch einiges aufzuholen hat: „Ich wollte über mixed-race-Charaktere schreiben, denn solche Geschichten gibt es in der deutschsprachigen Literatur noch immer kaum.“

Im Rahmen gemeinsamer Auseinandersetzungen auch die unterschiedlichen Perspektiven, Herangehensweisen und Erfahrungen der Studierenden zu berücksichtigen, ist für Nina Simon ein wichtiges Ziel in der Lehre. „Das ist Herausforderung und Chance zugleich“, findet Simon. „Weiß positionierte Lehrende wie ich, aber auch weiß positionierte Studierende erleben ungleich Studierender of Color keine VerAnderung. Es ist gerade für spätere Lehrkräfte unerlässlich, sich mit dem (auch eigenen) Verstricktsein in Herrschaftsverhältnisse auseinanderzusetzen, um etwas zu entwickeln, das mit Donna Haraway als Standpunktreflexivität bezeichnet werden kann.“

Die Studierenden stimmen ihr zu: „Ich erhoffe mir durch das Seminar eine Irritation und dass ich lerne, mein bisher erworbenes Wissen und möglicherweise einzelne Verhaltensmuster in Frage zu stellen.“ Der Arbeit miteinander kommt im Seminar dabei eine besondere Rolle zu. „In Kleingruppen, sei es in Präsenz oder digital, können die Studierenden sukzessive viele Puzzleteile erarbeiten, die ihnen hoffentlich dabei helfen, das große Puzzle – die Projektarbeit – erfolgreich zu erstellen“, beschreibt Simon den Prozess. Gegen Ende des Semesters haben die Studierenden Gelegenheit, ihre Überlegungen zur Projektarbeit zu präsentieren und Feedback von Dozentin und Kommiliton:innen zu erhalten, ehe die Prüfungsleistung eingereicht werden muss.

Schon jetzt ist viel passiert, im Seminar und darüber hinaus: die erste Online-Lesung hat bereits stattgefunden, inklusive einer regen Diskussion, die deutlich gezeigt hat, wie motiviert die Studierenden sind, über derart komplexe Sachverhalte zu diskutieren und voneinander zu lernen. „Ich freue mich, dabei auch immer wieder meine eigene Perspektive hinterfragen zu können“, sagt Nina Simon und ist gespannt auf die Projektarbeiten, die ihre Studierenden entwickeln werden.