Pressemitteilung 2020/189 vom

Am 1. Juli 2020 übernimmt Deutschland die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union. Ein Schwerpunktthema des deutschen Vorsitzes soll laut Bundesgesundheitsminister die Arzneimittelversorgung und stärkere Unabhängigkeit vom asiatischen Pharma-Markt werden. Wie Lieferengpässe bei der Medikamentenversorgung künftig vermieden werden können und welche Anreize und Maßnahmen es dafür braucht, erläutert der Professor für Klinische Pharmazie der Universität Leipzig, Thilo Bertsche. Der Forschungsdirektor des Zentrums für Arzneimittelsicherheit geht auch auf die Vorteile von zusätzlichen Produktionsstandorten in Europa und Deutschland ein.

Während des Corona-Lockdowns kam es häufiger zu Lieferengpässen bei Medikamenten. Was bedeuten diese Lieferschwierigkeiten für Patienten? 

Grundsätzlich stellen Lieferengpässe ein großes Problem für die Patientensicherheit dar. Alleine die Tatsache, dass ein bewährtes Arzneimittel nicht mehr lieferbar ist, kann die Therapie des Patienten beeinträchtigen. Richtig kritisch wird das Thema Lieferengpass jedoch, wenn es gar keine Therapiealternativen gibt. Wir sprechen dann von einem Versorgungsengpass. Ein solcher Lieferengpass kann dann sogar Leib und Leben des Patienten gefährden. Dies kann der Fall sein, wenn lebenserhaltene Therapien betroffen sind. Aber auch, wenn operative Eingriffe verschoben oder unter für den Patienten risikoreicheren Umständen durchgeführt werden müssen, kann die Patientensicherheit gefährdet sein.

In der Apotheke werden zwar häufig alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um dem Patienten ein regulär nicht lieferbares Arzneimittel dennoch im dringenden Einzelfall beschaffen zu können. Vielfach kann auch - gemeinsam mit dem behandelnden Arzt - ein therapeutisch vergleichbares Medikament ausgesucht werden. Dies kostet allerdings in der Summe der großen Zahl von Lieferengpässen erhebliche Ressourcen und führt nicht in jedem Fall zu einer zufriedenstellenden Lösung. Daher stehen hier auch die pharmazeutischen Unternehmer und der Großhandel in der Pflicht, das Thema Lieferengpässe zu lösen. 

Welche Ursachen führen überhaupt zu Lieferengpässen? In der Regel bestimmt die Nachfrage der Verbraucher die Verfügbarkeit der Produkte auf dem Markt. Verhält es sich auf dem Pharma-Markt anders?

Zunächst richtet sich der Bedarf – einfach gesagt – nach dem Auftreten von Erkrankungen, die ärztlich oder vom Patienten selbst behandelt werden sollen. Wenn sich beispielweise während einer Pandemie weltweit die Nachfrage nach bestimmten Medikamenten erhöht, werden spätestens dann aus teilweise schon vorher bestehenden Lieferengpässen Versorgungslücken. Natürlich verstärkt die Abhängigkeit von wenigen Produktionsstandorten - meist außerhalb Europas – dann das Problem. Manchmal ist sogar ein taktisches Vorgehen bei der Belieferung von möglichst gewinnbringenden Märkten zu befürchten. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass auch zahlreiche gesundheitspolitische Faktoren zu Lieferengpässen beitragen: Der Kostendruck im Gesundheitssystem – gerade auch im Hinblick auf die Rabattverträge ist hier ganz besonders zu erwähnen. Denn hier dürfen von der Apotheke eigentlich nur die günstigsten mit den Krankenkassen verhandelten Produkte eines Wirkstoffs abgegeben werden.

Wie können politische Akteure und Entscheider dieser Entwicklung entgegen steuern?

Pharmazeutische Unternehmen agieren heute weltweit. Das bietet ja auch unter Kostengesichtspunkten Potential, auf das gesundheitspolitisch gerne zurückgegriffen wird. Wenige große Produktionsstandorte insbesondere von Wirkstoffen in China oder Indien machen Arzneimittel in Europa möglichst billig verfügbar. Allerdings sollten politisch mehr Anreize geschaffen werden, auch wieder verstärkt Arzneimittel und Wirkstoffe regional zu entwickeln und zu produzieren. Dies hat nicht nur den Sinn, dass lange Transportwege vermieden werden. Auch kann auf diese Weise eine an die Nachfrage – beispielweise durch Krankheitsausbrüche – angepasste Produktion schneller in die Wege geleitet werden. Auch Qualitäts-, Umwelt- und Arbeitsstandards sind vor Ort einfacher zu kontrollieren. Wenn wieder zusätzliche Produktionsstandorte in Europa und Deutschland zur Verfügung stünden, würde das auch mögliche Risiken durch den Ausfall eines Produktionsstandortes reduzieren. Dies wird anhand der aktuellen Situation um COVID-19 besonders deutlich. Lieferengpässe können jedoch auch durch Schwierigkeiten am Produktionsstandort oder auf dem Transportweg durch politische Krisen oder Naturkatastrophen – aber auch durch eine lokale Havarie am Produktionsstandort – verursacht sein. Der Erfolg von Maßnahmen auf die Lieferfähigkeit von Arzneimitteln, Anreize zur Zurückverlagerung von Produktionsstandorten nach Europa und Deutschland zu schaffen, wird allerdings erst mittelfristig sichtbar sein. 

Welche Maßnahmen erachten Sie für sinnvoll?

Ein Beirat, der alle Beteiligten an den Tisch bringt, ist sicher ein gutes Instrument, um die anstehenden Probleme und vor allem konkrete Lösungsvorschläge anzugehen. Deutschlands Vorsitz bei der nächsten EU-Ratspräsidentschaft kann hier von Vorteil sein, um sich zu Maßnahmen gemeinsam auf EU-Ebene abzustimmen. Eine erste Maßnahme kann sein, Lieferengpässe frühzeitig transparent zu machen. Dann können sich beispielsweise die Apotheken besser vorbereiten. Das macht sich schon kurzfristig positiv bemerkbar. Insbesondere, wenn solche Informationen verbindlich und nicht nur freiwillig zur Verfügung gestellt werden. 
Reimporte, wenn also Arzneimittel, um Kostenvorteile abzuschöpfen zunächst exportiert und dann wieder zurück importiert werden, halte ich für keine nachhaltige Lösung – auch unter Berücksichtigung von langen Transportwegen. Um Lieferengpässe zu kompensieren, sehe ich daher in Reimporten allenfalls eine kurzfristig sinnvolle Maßnahme. In diesem Rahmen wäre es allerdings dann zu begrüßen, wenn bürokratische Hürden für die Apotheken abgebaut werden.