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Beim "Forum Kreativpotenziale 2022" traten vielfältige Akteur:innen zusammen um über die Verankerung von kultureller Bildung in Bildungssystemen zu diskutieren.
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Ein Beitrag von Dr. Luise Fischer und Malin Nissen

„Was, wenn alles ganz anders wäre?“ Am 8. und 9. März trafen sich vielfältige Akteur:innen und Interessent:innen, um mit dem „Forum Kreativpotenziale 2022“ gemeinsam eine Dekade besonderen Engagements in der kulturellen Bildung der Länder zu reflektieren. Gefördert von der Stiftung Mercator und fast zehn Jahre begleitet von der Wider Sense TraFo gGmbH trat das Rahmenprogramm „Kreativpotentiale im Dialog“ für eine nachhaltige Verankerung kultureller Bildung in den Bildungssystemen der Länder ein. Der digitale Abschlusskongress, der gemeinsam mit verschiedenen Partner:innen und besonders dem Ministerium für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein und der Stiftung Mercator geplant wurde, unterstrich noch einmal die vielfältigen Potentiale kultureller Bildung – gerade in Zeiten wachsender Komplexität und Unsicherheit.

 

Karin Prien, Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein und Präsidentin der Kultusministerkonferenz im Jahr 2022, formulierte sechs Thesen, die sie eindrucksvoll verargumentierte und im Anschluss im Dialog mit Prof. Dr. Lydia Grün von der Hochschule für Musik in Detmold erörterte:

  • Kulturelle Bildung fördert Resilienz, bewusstes Gestalten und ganzheitliches Wahrnehmen.
  • Kulturelle Bildung ist eine Grundlage für politische und demokratische Kompetenz und damit eine Art Querschnittsthema, das Wahrnehmung, Reflexionsfähigkeit und Selbstwirksamkeit fördert.
  • Kulturelle Bildung bedeutet Bildung zur Teilhabe.
  • Kulturelle Bildung braucht Nachhaltigkeit.
  • Kulturelle Bildung ist die gemeinsame Aufgabe von Bildung, Kultur und Wissenschaft.
  • Digitalität verändert kulturelle Bildung.

„Die Bildung der Zukunft erfordert einen großen Veränderungswillen von uns allen,“ argumentierte Karin Prien. Und genau diese Offenheit für Veränderungen – für das Experimentieren und Improvisieren – ist zentral in der kulturellen Bildung.

 

Auch Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani, Lehrstuhl für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück, betonte im Anschluss auf beeindruckende Weise, dass kulturelle Bildung notwendige Kompetenzen und Fähigkeiten fördert und fordert: den Umgang mit Unsicherheit und Komplexität, die Freude am Experimentieren, das Wechselspiel aus Kooperation und Wettbewerb sowie Reflexionsfähigkeit und das Erfahren von Selbstwirksamkeit. Professor El-Mafaalani arbeitete den Zusammenhang von Benachteiligung, Migration und (Bildungs-)Erfolg heraus und hob dabei die Rolle von Familie und Eltern hervor: „Menschen tragen ihre Herkunft in sich.“ Wenn wir nun wollen, dass Schule dem entgegenwirkt, dann müsse dort mehr getan werden, so Professor El-Mafaalani. Dafür braucht es auch kulturelle Bildung, da sie besonders die Selbstwirksamkeit fördert und hilft mit widersprüchlichen Erwartungsbildern der Eltern umzugehen und kreativ und resilient Dilemma aufzulösen. Sowohl Frau Prien wie auch Herr El-Mafaalani betonten daher die Vorteile, kulturelle Bildung systematisch an Schulen zu verankern und das Netzwerk aus Schule und außerschulischen Akteuren zu stärken. Dies könne ein Umdenken bei Eltern und Kindern erwirken.

 

 

In parallelen Workshops vertieften die Teilnehmer:innen diese Einblicke anschließend und erarbeiteten neue Perspektiven mit und auf kulturelle Bildung. Ein Aspekt war dabei die Beziehung und Verbindung kultureller und nachhaltiger Bildung. Im Workshop „Lernen durchlüften“ bewirkten Dr. Johanna Pareigis, Biologin, Bildungsreferentin in Lehrer:innenfortbildung und Gründerin der Bewegung Lernen im Freien, und Antje Smorra, Kulturvermittlerin und Beraterin an Schulen für kulturelle Bildung draußen, Perspektivwechsel. In ihrem Input betonte Dr. Pareigis die Ursprünge des Lernens an der frischen Luft in Skandinavien. Die beiden Begriffe „Friluftsliv“ (Freiluftleben) und „Naturbegeistring“ (Naturbegeisterung) seien besonders in Norwegen zentral für ein Lebensgefühl, in dem Outdoor-education genauso selbstverständlich wie Unterricht im Klassenzimmer dazu gehört.

 

Im ersten Moment könnte man doch denken „Lernen im Freien – ist das nicht viel zu nass, kalt und windig? Wie sollen die Kinder denn ohne Tische schreiben?“. Wer sich mehr mit dem Thema auseinandersetzt, wird jedoch schnell merken, dass es nicht darum geht, das Lernerlebnis aus dem Inneren einfach nur auf das Draußen zu übertragen. Es geht stattdessen um ein anderes Lernerlebnis, denn Lernerfolge sind dort am größten, wo die Umwelt komplex und auch mal unbequem ist, so die Workshopleiter:innen. Wo mehr Lernanreize geboten werden, sind wir am meisten gefordert und werden experimentierfreudig und kreativ. Draußen kann also ganz anders gelernt werden. Die Bedeutung einer Horizonterweiterung im Lernumfeld ist besonders in Deutschland hoch, wo das Gefühl mangelnder Selbstwirksamkeit unter Lernenden im Vergleich zu anderen Ländern besonders ausgeprägt ist. Die Workshopleiter:innen plädieren daher für die Ergänzung von Kurrikula durch naturbezogene Anteile.

 

Es geht aber nicht nur darum, Schule in die Natur zu bringen. Auch Kultur und kulturelle Bildung können sicher von einem größeren Naturbezug profitieren. Lassen Sie uns kurz anmerken, dass die Vorteile von Freiluftunterricht schon der erste asiatische Nobelpreisträger für Literatur, der indische Autor Rabindranath Tagore erkannte. Tagore gründete bereits im Jahre 1901 eine Freiluft-Schule in Shantiniketan, in Westbengalen, die sich im Laufe der Zeit zu einer Freiluft-Universität entwickelte. Hier wird bis heute neben zahlreichen anderen Fächern schwerpunktmäßig Kunst unterrichtet, was die Verbindung von Lernen im Freien mit Kunst und Kultur unterstreicht. Tagore war der Auffassung, formale Bildung habe sich zu sehr von der Natur entfernt. Er plädierte daher für eine Verschmelzung von Kultur und Natur und einer Verbindung dieser Elemente in jeder Form der Bildung. Sowohl kulturelle als auch formale Bildung können also von einem größeren Naturbezug profitieren. Doch wie setzt man so etwas um? Dabei sind den Gestaltenden keine Grenzen setzt. Ob Theaterproben im Freien, draußen musizieren, Zirkusveranstaltungen unter freiem Himmel oder Kunstausstellungen im Freien. Hier ist vor allem Kreativität in der individuellen Umsetzung von Draußenelementen in kulturellen Projekten geboten. Schließlich hat uns auch die Philosophin Rosi Braidotti gemeinsam mit vielen anderen immer wieder eingeladen, auch das Natur-Kultur-Kontinuum zu sehen und dualistische Sichtweisen zu überwinden. Was wäre also, wenn „Natur“ und „Kultur“ verzahnt sind und sich bedingen?

 

 

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Dr. Luise Fischer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und die Koordinatorin. Sie übernimmt unter anderem die (post-)qualitative Forschung und die Vernetzungsarbeit.

Malin Nissen ist wissenschaftliche Hilfskraft im Projekt MetaKLuB und arbeitet unter anderem im Bereich Öffentlichkeitsarbeit.