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Das Team des Teilprojekts "Theater im Off" (ThOff) der Universität Hildesheim stellt erste Ergebnisse vor. Das Verbundprojekt ThOff erforscht amateurbasierte und professionelle Theaterangebote in Südniedersachsen als Basis für Strategien des Audience Development in peripheren Räumen.

Wer sitzt eigentlich im Publikum von Theatervorstellungen in ländlichen Räumen? Gibt es eklatante Unterschiede in Zusammensetzung, Motivation und Erwartungshaltung gegenüber den Zuschauer.innen im städtischen Raum? Wie funktioniert Publikumsbindung im Spannungsfeld zwischen Tourneetheatern, Laiengruppen und ehrenamtlich organisiertem Kulturprogramm? Welche Formate der Vermittlung und Vernetzung konstituieren sich in einer von Strukturwandel, eingeschränkter Mobilität und schwacher kultureller Infrastruktur geprägten Umgebung?

Das Forschungsprojekt «Theater im Off», gefördert von der BMBF-Förderrichtlinie «Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen», untersucht Strategien zur Publikumsgewinnung und -entwicklung von Akteuren der Theaterlandschaft ländlicher Räume am Beispiel von Südniedersachsen. In einem dreijährigen Forschungsprozess werden dabei nicht nur die Spezifika der bestehenden Audience-Development-Aktivitäten der Anbieter analysiert, sondern, gemeinsam mit der Universität Göttingen, auch die Zusammensetzung und die Bedürfnisse der jeweiligen Publika erhoben. Denn Erkenntnisse über Kulturnutzung außerhalb der großen Zentren sind rar und basieren oft auf dem Vorurteil des Defizitären.

In einem ersten Schritt der Studie wurde deutlich, dass die Theaterlandschaft ländlicher Räume deutlich diverser ist als zunächst angenommen. Neben den öffentlichen Landesbühnen, die den Auftrag haben, die ländlichen Regionen mit Gastspielen zu versorgen, und den ehrenamtlichen Amateurtheater-Gruppen, bei denen Akteure und Publikum eng verbunden sind, sind das u.a. private Tourneetheater, Gastspiele städtischer Institutionen und freie Theatergruppen. Allen ist gemein, dass sie über keine eigenen festen Spielorte in den entsprechenden Regionen verfügen. Zu essenziellen Partnern sämtlicher Gastspielangebote werden deshalb Kulturämter und in Südniedersachsen vor allem ehrenamtlich getragene Vereine, die eigene Bühnen und Hallen verwalten und Produktionen einladen bzw. einkaufen. Bürgerschaftliches Engagement wirkt hier einer strukturellen Unterversorgung entgegen. Im Zusammenspiel mit den wirtschaftlichen Bedingungen des Gastspielmarktes sowie oftmals geringen kommunalen Kulturetats führt dies zu einer stark nachfrageorientierten Programmgestaltung.

Eine qualitative Studie zu den Audience-Development-Maßnahmen auch der privaten Theater-Anbieter in den ländlichen Regionen zeigt eine große Bandbreite an innovativen Formaten, die nicht nur auf quantitativen Publikumserfolg zielen, sondern auch einen Teilhabe-orientierten Ansatz verfolgen. So gibt es zahlreiche, erlebnisorientierte- und gemeinschaftsbildende Formate, wie zum Beispiel Kuchennachmittage, Theaterfeste oder Grillabende, die entweder zum Kartenvorverkauf angeboten werden oder die Vorstellungen selbst rahmen. Andere Formate fördern die regionale Anbindung und tragen zur Hervorbringung einer kollektiven Identität bei, indem sie die Handlung eines Stücks an den entsprechenden Aufführungsort adaptieren oder kleine Zitate mit Lokalkolorit einstreuen. Wieder andere partizipative Formate binden die Zuschauer:innen selbst ein und machen sie zum aktiven Teil des künstlerischen Produkts – dieser Ansatz erfordert vor allem für tourende Akteure hohe Ressourcen, deshalb sind hierbei besonders die privaten Theater hervorzuheben, die unabhängig von einem konkreten kulturpolitischen Auftrag oder einem direkten finanziellem Mehrwert teilhabeorientiert agieren. Die öffentlich subventionierten Landesbühnen schicken zudem mobile Vermittler:innen als Agent:innen der kulturellen Bildung auch unabhängig von gebuchten Produktionen durch ihr Einzugsgebiet, um ihrem Auftrag nachzukommen, Theater in die Fläche zu tragen.

Die bislang befragten Zuschauer:innen der Beispielregion zeichnen sich durch eine hohe Mobilität und eine hohe Flexibilität in der Nutzung der angebotenen Theaterangebote aus. So nutzt ein Großteil der befragten Besucher:innen verschiedene Theaterformen parallel und formuliert je nach Theateranbieter und -setting verschiedene Ansprüche und Erwartungshaltungen, nimmt die vorhandene Theaterlandschaft also sehr differenziert wahr.

Auf Basis der qualitativen empirischen Daten kann die Vermutung bestätigt werden, dass sich das Publikum professioneller Anbieter in seiner soziodemografischen Zusammensetzung und seiner Besuchsmotivation nur geringfügig vom urbanen Publikum unterscheidet. Anders sieht es hingegen beim Publikum der Amateurtheater aus, das vor allem aus persönlicher Verbundenheit mit den Akteur:innen oder dem Dorf zu den Aufführungen kommt und damit einem anderen Nutzungsprofil als dem urbanen Durchschnitt entspricht. Der Zugang zu den darstellenden Künsten über das Elternhaus oder das Engagement einzelner Lehrpersonen im Rahmen der allgemeinen Schulbildung nimmt eine geringere Rolle in der kulturellen Sozialisierung ein. Aspekte wie Solidarität, Engagement, Begegnung und Ereignishaftigkeit sind zentrale Elemente der Besuchsentscheidung in der nicht-professionellen Theaterlandschaft außerhalb der Städte und legen die These nahe, dass es sich hier um ein Publikum handelt, das eher dem Durschnitt einer dörflichen Bevölkerung entspricht und damit deutlich diverser ist als das Publikum professioneller Angebote. Der Großteil der Zuschauer:innen ist Teil des Stammpublikums und ordnet den Theaterbesuch als jährlich wiederkehrende Tradition ein, die als soziales Ritual auch dazu dient, sich mit der Dorfgemeinschaft verbunden zu fühlen und an einem breit diskutierten und gefeierten Ereignis teilzuhaben.

Eine quantitative Überprüfung dieser Beobachtungen erfolgt bis Ende 2022 und füllt eine Forschungslücke: endlich können tragfähige Aussagen zum Publikum außerhalb der Großstädte und außerhalb professioneller Strukturen getroffen werden. Mit breit angelegten Besucher:innen-Befragungen in der Beispielregion Südniedersachsen wird die gesamte Spannweite der Theaterlandschaft und ihrer Nutzer:innen untersucht. Schon jetzt kann eine erfreulich hohe Rücklaufquote von bis zu 80 Prozent und eine hohe Bereitschaft der Zuschauer:innen vermerkt werden, die Fragebögen auszufüllen, weil sie dadurch das kulturelle Engagement ihrer Region als wertgeschätzt empfinden. Vielleicht stehen am Ende des Forschungsprojektes gar die Entschärfung einiger Vorurteile und die Erkenntnis, dass sowohl Forschung als auch Praxis von den Erfahrungen und Kompetenzen von Akteur:innen wie Publikum der ländlichen Räume noch etwas lernen können.

 

Weitere Informationen:

Gittermann, Nele/ Gödecke, Dario/ Mandel, Birgit/ Bizer, Kilian (2023): Angesagt statt abgehängt. Herausforderungen und Potentiale der Publikumsbindung in der Theaterlandschaft ländlicher Räume aus Produktions- und Rezeptionsperspektive. In: Kolleck, Nina und Fischer, Luise (Hg.). Kulturelle Bildung im ländlichen Raum. Transfer, Ko-Konstruktion und Interaktion zwischen Wissenschaft und Praxis. Leverkusen: Budrich Academic Press.

 

Die Überschrift "Die sind doch nicht hinterm Mond" ist ein Zitat des Intendanten des privaten Tournee-Theaters, qualitatives Leitfaden-Interview vom 28.9.21