Seit dem "Arabischen Frühling" erleben fast alle Länder zwischen Marokko und Syrien lokale Proteste, spontane Aufstände und Massendemonstrationen. Die arabischen Großstädte sind Orte, an denen junge Leute Widerstand und Protest gegen Ungerechtigkeit, Willkür, Armut und Ausgrenzung sichtbar machen. Denn, wie die Herausgeber in ihrem einleitenden Beitrag verdeutlichen, "gerade die Metropolen und Megacities des globalen Südens wie Kairo oder Istanbul zeichnen sich durch Problemballungen auf engstem Raum aus. Ungleichheit und Ausgrenzung werden auch für Jugendliche immer sichtbarer und erlebbarer."
Aus welchen sozioökonomischen Bedingungen heraus agieren Jugendliche, wie verorten sie sich sozial und kulturell? Welche Handlungsspielräume können sie sich trotz aller wirtschaftlichen Zwänge und staatlicher Kontrolle im Alltag erkämpfen? Wie verändern Widerstand und Protest politische Ordnungen und Gesellschafts-entwürfe? Die Beiträge des Sammelbandes beschränken sich in ihren Antworten nicht allein auf die Massenbewegungen der jüngsten Vergangenheit. Widerstand, so formulieren die Herausgeber, ist weit mehr als nur das Zusammenkommen in großen Kundgebungen: "Alltag kann ohne Widerstand auskommen, doch Widerstand kann alltäglich werden."
Ouaissa und Gertel sowie die weiteren Autoren versammeln Stimmen von Jugendlichen, die bisher kaum gehört wurden. Der erste Teil des Bandes führt konzeptionell in die Themen Jugend, Widerstand und Stadtentwicklung ein. Darauf folgen Fallstudien: im zweiten Teil zu Nordafrika und im dritten Teil zum Nahen Osten. Diese Studien beruhen auf jahrelangen Feldforschungen und intensiven Gesprächen vor Ort.
So nimmt Jörg Gertel die Ursachen von Protestaktionen in Nordafrika und dem Nahen Osten in den Blick. Sie liegen, so argumentiert der Sozialgeograph, in neoliberaler Globalisierung, einer dramatischen Privatisierungswelle sowie wachsender Armut und Schutzlosigkeit.
Neben der Gentrifizierung der Städte und der Marginalisierung großer Teile der Bevölkerung kommt es aber auch zunehmend zur Aneignung des öffentlichen Raums durch entrechtete und benachteiligte Städter, wie Asef Bayat in seinem Beitrag ausführt: Straßen, öffentliche Plätze und Grünanlagen werden als Räume für Arbeit, Freizeit und Gemeinschaftsleben genutzt. Nicht durch konzertierte politische Mobilisierung, sondern durch informelle Alltagspraktiken behaupten die Einwohner ihr Recht auf die Stadt und treiben die Eliten in den Schutz sicherheitsüberwachter und privatisierter Rückzugsräume.
Wie sind die empirischen Befunde zu bewerten? Jugendliche in der arabischen Welt, so schreiben die Herausgeber, "sind Akteure des Widerstands". Sie sind besser gebildet als jemals zuvor, verfügen über eine Medienkompetenz wie keine andere soziale Gruppe und sind durch ihre wachsenden Englisch-Kenntnisse fähig, sich mit Ausländern zu vernetzen. Die junge Generation entwickle neue, auch subversive Partizipations-, Mobilisierungs-und Protestformen. "Einerseits sind es individuelle, private Träume und hedonistische Lebensentwürfe, um die Jugendliche ringen", konstatieren Ouaissa und Gertel. "Andererseits scheint die Jugend auch kollektiven Idealen verpflichtet zu sein."
Professor Dr. Jörg Gertel studierte Geographie, Islamwissenschaft und Ethnologie in Marburg, Freiburg und Damaskus und hat an der Universität Leipzig den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie und Globalisierungsforschung inne. Er war Sprecher des Sonderforschungsbereichs "Differenz und Integration" (2007-2013).
Professor Dr. Rachid Ouaissa lehrt Politik des Nahen und Mittleren Ostens am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) der Philipps-Universität, das die hessische Orientforschung bündelt. Er leitet ein interdisziplinäres Forschungsnetzwerk zur Neubewertung von Geschichte und Gegenwart des Mittleren Ostens und Nordafrikas, das vom Bundesforschungsministerium finanziert wird.
Bibliografische Angaben:
Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.): Jugendbewegungen. Städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt, Bielefeld (transcript) 2014, ISBN 978-3-8376-2130-3, 400 Seiten, 19,99 Euro