Frau Prof. Möhring: Was bedeutet der Kongress für Sie als Historikerin und worum geht es in Ihrer Keynote?
Prof. Dr. Maren Möhring: Der gemeinsame Kongress der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) und der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen (DGESS) in Gera bietet mir die Möglichkeit, in ein interdisziplinäres Fachgespräch über Ernährungs-, Gesundheits- und Körpervorstellungen einzutreten. Denn die für uns heute enge Verbindung von Ernährungsverhalten und Gesundheit ist ein modernes Phänomen. Erst die Ver(natur)wissenschaftlichung der Ernährung und des Körpers – etwa in Form von energetischen Input-Output-Modellen (aufgenommene Nahrung versus Energieverbrauch durch Arbeit und Bewegung) – hat das Essverhalten zu einem zentralen Faktor der Gesundheiterhaltung gemacht. Die moderne Regulierung des Essverhaltens erfolgt, so gesehen, vielerorts über Kalorienberechnungen und nicht mehr primär zum Beispiel über religiös begründete Speisevorschriften.
Es geht Nina Mackert und mir in unserer Keynote darum, für die historischen Bedingungen zu sensibilisieren, die zu einer solchen spezifischen Kopplung von Ernährung und Gesundheit geführt haben, und damit scheinbar selbstverständliche Zusammenhänge als historische gewordene Phänomene sichtbar zu machen. Das bedeutet auch, gängige Narrative, wie etwa „Vom Mangel zum Überfluss“, zu differenzieren und zum Beispiel zu zeigen, dass auch in heutigen sogenannten Überflussgesellschaften Mangel herrscht: an finanziellen Ressourcen, sich als hochwertig erachtete Lebensmittel leisten zu können, aber auch an einer guten Infrastruktur für dir Versorgung aller. Da wir auf dem Kongress der Deutschen Adipositas-Gesellschaft vortragen, geht es uns auch darum, aus gesellschaftshistorischer Perspektive zu zeigen, wie Leibesfülle, die bis weit ins 19. Jahrhundert auch in westlichen Gesellschaften ein Symbol für Wohlstand war, im Laufe des 20. Jahrhunderts sukzessive abgewertet und dicke Menschen zunehmend stigmatisiert wurden. Ihnen wurde und wird oftmals vorgeworfen, dass sie über keine ausreichende Selbstkontrolle verfügten und dem Gesundheitssystem zur Last fielen. Die Verantwortung für den eigenen Gesundheitszustand ist in liberalen und insbesondere neoliberalen Gesellschaften immer stärker auf das Individuum übertragen worden. Diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind ebenso wichtig wie ernährungswissenschaftliche oder medizinische Erkenntnisse, um menschliche Ernährungsweisen und Körperpraktiken in ihrer Komplexität und Varietät zu verstehen.
Worüber forschen Sie aktuell?
Derzeit leite ich im Rahmen der Arbeitsgruppe Global Health am LeipzigLab gemeinsam mit Marian Burchardt, Nina Mackert und Caroline Meier zu Biesen ein DFG-Projekt mit dem Titel „Pandemic Space: Quarantäne und Responsibilisierung in Zeiten von Corona“. Wie die COVID-19-Krise eindrücklich gezeigt hat, sind Pandemien grundsätzlich räumliche Phänomene, die eine Neuordnung der Interaktion zwischen Menschen und Krankheitserregern erfordern. In der Pandemiebekämpfung spielten Quarantänemaßnahmen eine herausragende, in ihrer Tragweite historisch neue Rolle, da sie nicht nur auf bestimmte Gruppen, sondern ganze Bevölkerungen abzielten. Wir interessieren uns insbesondere dafür, dass und wie Techniken der Selbstisolierung, Mobilitätsbeschränkung und sozialen Distanzierung auf Responsibilisierungsstrategien aufbauen, die Individuen auffordern, Verantwortung für die eigene Gesundheit und diejenige anderer zu übernehmen. Die Covid-19-Pandemie ist selbstverständlich ein zentraler Gegenstand bei der Auseinandersetzung unseres beantragten Exzellenzclusters mit den „New Global Dynamics“, zu denen die veränderten Mensch-Umwelt-Beziehungen im Anthropozän und damit auch neue Krankheiten gehören. Diese gilt es, im Verbund mit den Naturwissenschaften interdisziplinär zu adressieren – ein unbedingt notwendiger Versuch, die multiplen Krisen der Gegenwart in ihrer Komplexität zu durchdenken.
Wie sind Themen wie die auf der Konferenz diskutierten in gegenwertig beobachtbare Dynamiken und Krisen einzuordnen?
Adipositas ist von der Weltgesundheitsorganisation als zentrale gesundheitliche Herausforderung identifiziert worden, und zwar auf globaler Ebene. Der Terminus „Globesity“ soll diese neue globale Dynamik auf dem Gebiet der Ernährung und Gesundheit fassen. Als Historikerinnen versuchen Nina Mackert und ich, das Thema „Globesity“ nicht nur von medizinischer, ernährungsphysiologischer oder psychologischer Seite anzugehen, sondern deutlich zu machen, dass zahlreiche gesellschaftliche, soziokulturelle und ökonomische Faktoren eine ebenso wichtige Rolle spielen und dass ohne Einbeziehung sozialwissenschaftlicher und historischer Erkenntnisse unsere Einsichten in die Krisen der Gegenwart begrenzt bleiben.