"Das eigentliche Problem in Sachen Ernährung in Deutschland ist, dass der Verbraucher überfordert ist von der Lebensmittelvielfalt und den unterschiedlichen Botschaften in punkto Ernährung", sagt Dr. Tatjana Schütz, Ernährungswissenschaftlerin am Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen Leipzig. Verloren steht er da im kulinarischen Schlaraffenland. Zum Tag der gesunden Ernährung ein Interview mit Dr. Tatjana Schütz über Regeln, die für Alle gelten.
Kann man wirklich alle Menschen über einen Kamm scheren und die einzig richtige Ernährung finden?
Eine relativ neue Richtung der Ernährungsforschung befasst sich mit der so genannten personalisierten Ernährung. Dies bedeutet, dass man versucht, auf Grundlage der individuellen genetischen Ausstattung maßgeschneiderte Ernährungsempfehlungen zu entwickeln, die das Risiko, eine ernährungsmitbedingte Krankheit zu bekommen, verringern sollen. Der Bedarf an Energie und Nährstoffen ist ja immer auch abhängig von Geschlecht, Alter, der Körperzusammensetzung und letztendlich der genetischen Ausstattung. Hinzu kommt die Lebenssituation. Schwangerschaft oder Stillzeit beispielsweise erhöhen den Bedarf. Auch haben Menschen, die Sport treiben, einen höheren Energiebedarf als Stubenhocker. Nicht zu vergessen sind Krankheiten, die zu einem erhöhten Energie- und Nährstoffbedarf führen können.
Wie gesund ernähren sich die Deutschen?
Das ist eine Frage, die sich auch das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) stellt. Es gibt deshalb alle vier Jahre, zuletzt 2008, einen Ernährungsbericht bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung in Auftrag. Darin werden unter anderem Daten aus der Agrarstatistik ausgewertet, das Ernährungsverhalten und der Lebensmittelverzehr untersucht. Die Änderungen im Lebensmittelverbrauch können sowohl zu positiven wie auch negativen Veränderungen in der Nährstoffzufuhr führen.
Positiv zu sehen ist der Anstieg des Verbrauchs von Lebensmitteln wie Getreide, Obst und Gemüse, die viele Nährstoffe und gleichzeitig wenig Energie liefern. Dennoch liegt die Zufuhr von Obst und Gemüse unter der empfohlenen Menge von 650 g pro Tag. Günstig ist ebenfalls, dass die Deutschen weniger Alkohol, Eier, rotes Fleisch und tierische Fette verzehrten, also Lebensmittel, die für die Entstehung von ernährungsmitbedingten Erkrankungen eine Rolle spielen. Zu den negativen Veränderungen gehört der Anstieg im Konsum von Zucker, der auch als "leerer Energieträger" bezeichnet wird, weil er außer Energie in Form von Kohlenhydraten keine Nährstoffe enthält. Ebenfalls kritisch zu sehen ist, dass die Deutschen zunehmend frittierte, also kalorien- und fettreiche Kartoffelerzeugnisse verzehrten. Es bleibt also trotz positiver Trends noch viel an Aufklärungsarbeit zu leisten!
Wo liegen Ihrer Meinung nach die eigentlichen Probleme in Sachen Ernährung in Deutschland?
Betrachten wir die Vielfalt an Lebensmitteln, die wir zu jeder Jahreszeit in Deutschland bekommen können, könnte man meinen, wir leben im Schlaraffenland. Milch und Honig fließen zwar nicht in den Flüssen, ihr Nachschub in den Supermarktregalen fließt jedoch kontinuierlich. Der Verbraucher steht nun oft überfordert vor dieser Vielfalt und soll als mündiger Käufer entscheiden, welche Lebensmittel für seine Gesundheit günstig sind. Zum einen fehlt jedoch das Wissen um eine vollwertige Ernährung, zum anderen siegt manchmal auch der Bauch über den Kopf und man entscheidet sich doch für die schmackhaftere aber ungesündere Variante. Dieses Spannungsfeld zwischen Wunsch und Wirklichkeit gilt es immer wieder zu adressieren und Lösungsansätze anzubieten.
Früher hatte Essen mit Natur zu tun, heute vor allem mit Industrie in Form von Fertigprodukten. Stimmt das?
Die Lebensmittelindustrie bietet das, was der Verbraucher wünscht. Es liegt natürlich immer am Einzelnen, wie er seine Ernährung gestaltet. Nicht jeder hat Zeit, seine Lebensmittel direkt beim Bauern oder auf dem Markt zu kaufen und sich dann das Kartoffelpüree, die Gemüsesuppe oder die Pizza selbst zuzubereiten. Meist greift man aus Zeitgründen oder aus mangelnder Kochkenntnis dann doch auf bereits vorgefertigte Produkte, sogenannte Convenience-Produkte, zurück. Häufig werden Convenience-Produkte auch in der Gemeinschaftsverpflegung eingesetzt. Je nach Verarbeitungsgrad unterscheidet man fünf Stufen von Stufe 1 "Küchenfertige Lebensmittel" wie geputzte Gemüse bis Stufe 5 "Tischfertige Lebensmittel" wie fertige Salate oder Obstkonserven.
Es gibt jedoch auch Verbraucher, die sich diesem Trend hin zu Convenience Produkten entziehen und sich bewusst für naturbelassene Lebensmittel entscheiden. Beispiel hierfür ist die Slow Food Bewegung, die die Kultur des Essens und Trinkens ins Zentrum der Ernährung stellt und sich für die Bewahrung des traditionellen Lebensmittelhandwerks und der regionalen Vielfalt einsetzt. "Ich würde mir wünschen, dass jene Verbraucher, die sehr viel Geld für Autos, Markenklamotten oder Handys ausgeben, auch bei Lebensmitteln mehr auf die Qualität achten", hat Ilse Aigner, Bundesministerin für Verbraucherschutz, gesagt. Was ist uns unser Essen wert? Mit dieser Frage beschäftigt sich das Statistische Bundesamt, das anhand eines repräsentativen Warenkorbes alle fünf Jahre ermittelt, wie hoch die Haushaltsausgaben für zwölf verschiedene Lebensbereiche sind. Im Vergleich zu 1995 sind die Ausgaben für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke im Jahr 2005 von 13,1 Prozent der Lebenshaltungskosten auf 10,4 Prozent gesunken und standen an vierter Stelle nach Wohnung, Wasser, Gas, Brennstoffe (30,8 Prozent), Verkehr (13,2 Prozent) und Freizeit, Kultur, Unterhaltung (11,6 Prozent). Ich würde mir wünschen, dass jeder Verbraucher weiß, was qualitativ hochwertige Lebensmittel sind und dass es ihm leichter gemacht wird, sich für diese Lebensmittel zu entscheiden.
Welche Esskulturen könnten uns als Vorbild dienen?
Ein Schlagwort ist hier die mediterrane Küche, also die Küche der Länder, die um das Mittelmeer liegen. Wer jetzt allein an Spaghetti mit Tomatensoße denkt, liegt allerdings falsch. Im Vergleich zu uns Nordeuropäern essen die Südeuropäer deutlich mehr Obst, Gemüse und Getreideerzeugnisse. Ganz oben auf der Verzehrliste stehen auch Fisch und Olivenöl. Und ein Gläschen Rotwein kann auch schon mal zum Essen gehören. Welcher Bestandteil dieser Ernährungsweise für die positiven Wirkungen auf die Entstehung von Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen verantwortlich ist, ist nicht bekannt. Es ist aber davon auszugehen, dass es nicht ein isolierter "Super-Nährstoff" ist, sondern dass es die Mischung aus Vitaminen, Ballaststoffen, sekundären Pflanzenstoffen und einfach ungesättigten Fettsäuren macht.
Was verstehen Sie persönlich unter gesunder Ernährung?
Eine gesunde Ernährung muss schmecken und dem persönlichen Lebensstil entgegen kommen. Ich halte es mit Paracelsus: "All Ding' sind Gift und nichts ohn' Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist." Auf Essen übertragen bedeutet dies, dass alle Lebensmittel erlaubt sind, es jedoch auf eine günstige Auswahl und eine angemessene Menge ankommt.
Die Gretchenfrage: Wie sieht DIE gesunde Ernährung aus?
Natürlich ist die Datenlage nicht umfassend und es gibt nicht nur gut gemachte Studien, aber es kristallisiert sich doch heraus, welche Lebensmittel eher günstig und welche eher ungünstig für unsere Gesundheit sind. Auf der sicheren Seite ist man, wenn man die folgenden zehn Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für eine vollwertige Ernährung beherzigt:
- Vielseitig essen
- Reichlich Getreideprodukte - und Kartoffeln
- Gemüse und Obst - Nimm "5" am Tag …
- Täglich Milch und Milchprodukte; ein- bis zweimal in der Woche Fisch; Fleisch, Wurstwaren sowie Eier in Maßen
- Wenig Fett und fettreiche Lebensmittel
- Zucker und Salz in Maßen
- Reichlich Flüssigkeit
- Schmackhaft und schonend zubereiten
- Sich Zeit nehmen und genießen
- Auf das Gewicht achten und in Bewegung bleiben