In den letzten Jahren haben Forschende aus verschiedenen Disziplinen über auffallende und scheinbar universelle Beziehungen zwischen der Größe von Städten und ihrer sozioökonomischen Aktivität berichtet. Je größer eine Stadt, desto mehr Netzwerkverbindungen gibt es zwischen ihren Bewohner:innen und desto mehr Innovationen und Wohlstand werden pro Kopf erzeugt. Was für die Stadtbevölkerung im Durchschnitt gilt, trifft jedoch nicht unbedingt auf den einzelnen Stadtmenschen zu.
„Die unerwartet hohe Wirtschaftsleistung großer Städte hängt maßgeblich von den extremen Leistungen einer kleinen Zahl sehr erfolgreicher Menschen und Unternehmen ab. Wenn die Politik diese Abhängigkeit ignoriert, läuft sie Gefahr, die Stabilität des städtischen Wachstums zu überschätzen, insbesondere angesichts der hohen räumlichen Mobilität der städtischen Eliten“, sagt Marc Keuschnigg, Professor für Soziologie an der Universität Leipzig und der Universität Linköping in Schweden.
Forscher analysierten Mikrodaten über soziale Interaktionen und Wirtschaftsleistung in hunderten von Städten
In einer in „Nature Human Behaviour“ veröffentlichten Studie analysierten die Forscher detaillierte Mikrodaten über soziale Interaktionen und die Wirtschaftsleistung in hunderten von Städten in Schweden, Russland und den Vereinigten Staaten. Zunächst zeigt die Studie eklatante soziale Ungleichheiten im Bezug auf die Vernetzung von Menschen, ihr Einkommen, ihren Erfindungsreichtum und ihre Forschungsleistungen.
Die Studie zeigt dann, wie die Leistungsfähigkeit und der Ideenreichtum einer Person von ihrem städtischen Umfeld abhängt. Aufgrund der Vielfalt in größeren Städten ist es dort wahrscheinlicher, dass qualifizierte und fachlich spezialisierte Menschen auf andere treffen, deren Fähigkeiten ihre eigenen ergänzen. Dies ermöglicht höhere Produktivität und mehr Möglichkeiten des Lernens in Großstädten.
Doch nicht jede Person hat gleichermaßen Zugang zu einem solchen sozialen Umfeld, das größere Städte bieten. Zudem kumulieren sich Vorteile des Umfelds über die Zeit, sodass erhebliche Ungleichheiten zwischen den Menschen in einer Stadt sowie zwischen der Einwohnerschaft von Städten unterschiedlicher Größe entstehen.
Die Forscher verfolgten die Karriereverläufe von über einer Millionen Schwed:innen und stellten fest, dass diejenigen, die anfangs in Großstädten Erfolg hatten, in stärkerem Maße davon profitierten als die Erfolgreichen in kleineren Städten. Im Gegensatz dazu hatten Personen mit durchschnittlichem Einkommen in kleineren und größeren Städten eine fast identische Lohnentwicklung.
Erfolgreiche in Großstädten setzen sich zunehmend von Durchschnittsverdienenden ihrer eigenen Stadt ab
Somit setzen sich die anfangs Erfolgreichen in den Großstädten zunehmend von den durchschnittlich Verdienenden ihrer eigenen Stadt ab, was zu Ungleichheit innerhalb von Großstädten führt. Außerdem distanzieren sich die Erfolgreichen in den Großstädten von den erfolgreichsten Personen in den kleineren Städten, was zu Ungleichheit zwischen Städten führt.
Die Studie zeigt auch, dass Gutverdienende häufiger aus kleineren Städten abwandern als aus großen, und dass sie dabei überwiegend in die größten Städte eines Landes ziehen. Die Abwanderung gut gebildeter und talentierter Menschen aus ländlichen Regionen verstärkt die beschriebenen Ungleichheiten sowohl zwischen Städten unterschiedlicher Größe als auch innerhalb der größten Städte, in denen gutausgebildete Neuankömmlinge den Kontrast von Gutverdienenden zu denen mit mittlerem Einkommen verstärken können.
„Großstädte brummen, weil dort auch viele der innovativsten, kontaktfreudigsten und qualifiziertesten Menschen leben. Diese Ausreißer tragen überproportional zur Wirtschaftsleistung ihrer Städte bei. Nach dem Prinzip ‚dem der hat, dem wird gegeben‘ entstehen kumulative Vorteile für Großstädte“, sagt Marc Keuschnigg. Aus politischer Sicht befasse sich die Studie mit der Nachhaltigkeit des städtischen Lebens vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Ungleichheit.
„Die Stadtforschung hat sich weitgehend auf Durchschnittswerte von Städten konzentriert und nur einen Datenpunkt pro Stadt betrachtet, zum Beispiel das durchschnittliche Einkommen. Frühere Studien haben mit ihrem Fokus auf Durchschnittswerte die extreme Ungleichheit innerhalb von Städten übersehen, sodass Vorhersagen zum Wachstum von Städten an der Lebenswirklichkeit vieler Städter vorbeigingen“, erklärt Marc Keuschnigg.
Die Studie weist auf den Ausschluss vieler Städter:innen von den sozioökonomischen Vorteilen wachsender Städte hin. Ihr Lebensstil, anders als der von urbanen Eliten, hängt weitaus weniger von den Interaktionsmöglichkeiten großer Städte ab. Wenn man die hohen Lebenshaltungskosten vieler Großstädte berücksichtigt, ist demnach zu erwarten, dass viele Großstädter:innen wirtschaftlich sogar schlechter gestellt sind als vergleichbare Menschen, die an kleineren Orten leben.
Publikation in „Nature Human Behaviour“:
„Urban scaling laws arise from within-city inequalities“ (Martin Arvidsson, Niclas Lovsjö, Marc Keuschnigg)
DOI: https://doi.org/10.1038/s41562-022-01509-1