Pressemitteilung 2003/263 vom

Bemerkenswertes Ergebnis einer Studie
Interview mit dem Leipziger Soziologie-Professor Georg Vobruba

Im Sommer 2002 fragten die Leipziger Soziologen Ronald Gebauer, Hanna Petschauer, Georg Vobruba "Wer sitzt in der Armutsfalle?" Die Antwort legten sie in ihrer gleichnamigen Studie vor. Diese ergab anhand empirischen Materials und qualitativer Befragungen: Die Annahme, dass Menschen im Bezug von Lohnersatzleistungen bleiben, sofern der Abstand zum alternativ erzielbaren Lohneinkommen zu gering ist, ist schlichtweg falsch. Inzwischen sind zwölf Monate vergangen. Geblieben ist die Frage: Findet die Politik aus der Armutsfalle heraus?

Frage: Inzwischen stimmen Politiker aller Parteien dafür, Lohnersatzleistungen zu streichen. Für sie steht fest: Lediglich durch deutliche Abstriche bei Arbeitslosengeld und Sozialhilfe lassen sich die Empfänger derartiger Leistungen motivieren, eine Erwerbsarbeit aufzunehmen. Damit wiederum ginge die Zahl der Arbeitslosen zurück; und dies entlaste die Sozialsysteme. Kann das funktionieren?

Prof. Georg Vobruba: Die Bereitschaft, zu arbeiten, ist überwiegend ohnehin gegeben. Ob man diese Bereitschaft durch das Senken von Lohnersatzleistungen steigern kann? Vielleicht ja, vielleicht nein. Mit anderen Worten: Natürlich kann man die Menschen durch administrativ verfügte materielle Notsituationen noch drängender auf den Arbeitsmarkt angewiesen machen - bloß dadurch entsteht kein einziger Job.

Woher rührt die Annahme, dass Menschen nach einem längeren "Genuss" von sozialer Unterstützung, von Lohnersatzleistungen nicht mehr willens zur Erwerbsarbeit sind?

In der Standardökonomie wird die These von der Armutsfalle vertreten, die bedeutet: Wenn der Abstand zwischen Lohnersatzleistung und dem alternativ erzielbaren Lohn nicht groß genug ist - wobei man nie genau weiß, wie viel groß genug ist - dann bleiben die Leute in Sozialleistungsbezug bzw. Sozialhilfe und stehen dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Wenn dies wirklich so ist, so unsere Überlegung, dann müssten die individuellen Sozialhilfebezugsdauern sehr, sehr lang, virtuell unbegrenzt lang sein. Das ist die logische Schlussfolgerung. An dieser Stelle hören viele einfach mit dem Denken auf und sagen: So ist das.

Das war Ihren Kollegen und Ihnen nicht genug? Was hat sie bewogen, die Annahme - wenn man eine relativ hohe Lohnersatzleistung bezieht, arbeitet man lieber nicht - auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen?

Zuerst einmal - ohne auf Politik zu schielen - durchaus der Aktualitätswert. Und zweitens, wissenschaftlich gesagt: Dass man zeigen kann - an einem schönen, forschungstechnisch überschaubaren und wichtigen Teilgebiet wie dem "Theorem der Armutsfalle" -, dass sich Anreizstrukturen nicht eins zu eins in Handeln umsetzen. Dass eben Menschen über eine eigene Rationalität verfügen und dass all jene Theorieansätze, die Handeln auf irgendeine Schmalspurrationalität zurückführen, im Ansatz verkehrt sind. Will man wissen, wie Menschen handeln, muss man sie anschauen und ihnen nicht irgendwelche Handlungslogiken wie Kuckuckseier unterschieben. Das allerdings wird gern gemacht, in der Ökonomie sowieso und bei den Sozialwissenschaften gibt es auch gewisse Tendenzen.

Sind diese Tendenzen der Grund dafür, dass das "Theorem der Armutsfalle" so lange ohne wissenschaftliches Fundament überleben konnte?

Die Frage wäre eine eigene Studie wert. Die Annahme war so selbstverständlich, dass eigentlich niemand es für notwendig empfunden hat, das wirklich explizit zu untersuchen. Es gab zwar eine Reihe ähnlicher Untersuchungen. Aber genau auf den Punkt bezogen, wurde es - jedenfalls in Deutschland - noch nie. Die Langlebigkeit der These liegt auch in der Dominanz der Ökonomie als Wissenschaft in diesem Politikfeld begründet. Die Standardökonomie - stützt sich, höflich gesagt, vornehmlich auf Axiome und daraus abgeleitete Schlussfolgerungen. Und eines der Axiome lautet: Bei unzureichendem zusätzlichem Einkommen wird Arbeitskraft nicht angeboten. Die Aktenlage - wie hoch ist der durchschnittliche Lohn?; wie hoch die durchschnittliche Sozialleistung?; ist der Unterschied gering? - lässt sich ja mit geringem empirischem Aufwand rekonstruieren. Man folgert daraus, dass bei einem geringen Unterschied zwischen beiden "Einkommen" doch niemand arbeiten wird ... Nur, die Menschen arbeiten trotzdem.

Trotzdem?

Viele unserer Interviewpartner sagen, das kommt in den qualitativen Befragungen gut heraus: Na ja, kurzfristig, aber wirklich nur sehr kurzfristig, kann ich mir vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, einen Lenz machen. Aber langfristig kommt das dicke Ende. Also versuch' ich gleich, am Arbeitsmarkt dran zu bleiben.

Sie haben nun also geschaut, wie es wirklich ist?

Zum Glück verfügen wir seit 1984 mit dem Sozio-Ökonomischen Paneel über einen komplizierten, aufwändigen, guten Datensatz in der Bundesrepublik, der es uns erlaubt hat, exakt hinzuschauen. Und siehe da: Die überwiegende Anzahl der Sozialhilfeepisoden ist ziemlich kurz. Die Leute verlassen also das Sozialhilfesystem. Und das obwohl in der Tat in vielen Fällen der Abstand zwischen Lohn und Lohnersatzleistung nicht gerade groß ist. Anders gesagt: Die allermeisten Leute gehen auch dann arbeiten, wenn die zustehenden Lohnersatzleistungen relativ nah am beziehbaren Lohn liegen. Das haben wir in unserer Studie herausgefunden; und bisher habe ich keine entgegen lautende Untersuchung auf demselben Empirieniveau gesehen.

Die Menschen richten sich also nicht nach der gängigen Theorie? Wie kommt das? Warum?

Bei "Warum" fragt man am besten die Beteiligten selbst. Dabei haben wir eine Fülle von Motiven hervorgebracht. Und mein Eindruck ist - sofern man auf qualitativer Basis so was sagen kann: Ganz überwiegend wird mit Sozialhilfe rational umgegangen. Rational im Sinn der Lebensplanung, die die Menschen selbst haben.

Erwarten oder hoffen Sie, dass die Studie in politisches Handeln mündet?

Das glaube ich nicht. Wer sollte das tun? Schauen wir die Parteien an. Da ist kein Akteur in Sicht.

Sind Sie darüber enttäuscht?

Man forscht und forscht, und wenn es jemand zur Kenntnis nimmt, so freut es einen. Ich würde mich aber hüten, Forschung zu betreiben mit Blick auf Politik und erst recht mit Blick auf irgendeine Partei ... Stellen wir es uns realistisch vor: Soll sich die SPD hinstellen und sagen "Liebe Bevölkerung, das mit dem Abbau der Arbeitslosigkeit wird nun mal nichts mehr. Nehmt es uns nicht übel."

Warum nicht?

Ja! Natürlich! Die Anerkennung der Realität als Realität ist immer der erste Schritt, Politik zu machen. Aber die Anerkennung dieser Realität ist sehr schwer. Das Beschäftigungsthema ist so stark besetzt, dass, wer da auch nur den Verdacht erweckt, er sei nicht besten Willens, sich wahrscheinlich unheimliche Probleme einhandelt.
Zudem gibt es, wie man das so schön nennt, viele gesellschaftliche Kräfte, die hoch interessiert daran sind, dass alles so bleibt. Denken Sie an Subventionen oder Steuervergünstigungen. Wenn da gestrichen werden soll, erhebt sich die jeweilige Lobby und ruft: Das kostet Arbeitsplätze. Das Arbeitsplatz-Argument ist schon für die einen sehr hinderlich, für die anderen sehr praktisch.

Gibt es eine Alternative zu der Formel "Sozialabbau schafft Arbeit"?

Das ist immer schwer zu sagen. Man kann die Fehler der letzten Jahre, in Deutschland speziell die Fehler seit der Wiedervereinigung - die Wiedervereinigung wurde ja finanziert von den Sozialetats - nicht ungeschehen machen. Man kann also höchstens etwas retten.
Ich würde sagen: Ein gewisses Maß an Sozialabbau wird sein müssen; aber man sollte wenigstens nicht versuchen, die Not in eine beschäftigungspolitische Tugend umzulügen. Wenn es sein muss, muss es sein. Aber man soll dann nicht noch so tun, als würde das dann eine Lösung der Beschäftigungsprobleme sein.
Eher würde ich mir vorstellen, dass Erleichterungen von Einstellungen und Kündigungen viel mehr für die Verflüssigung des Arbeitsmarktes bringen. Aber eben eine Erleichterung, insbesondere von Kündigungen, die Menschen nicht ins Bodenlose fallen lässt, sondern in Sozialleistungen. Ebenso kann ich mir viele Maßnahmen zur Deregulierung vorstellen - von der Handwerkerordnung bis zum Hochschulrahmengesetz.

Also eher eine freie Marktwirtschaft …?

… was immer dieses Wort heißen mag, ja, eine relativ freie Marktwirtschaft auf einem Sockel von sozialer Sicherheit würde ich besser finden als solch ein wildes Gemisch aus der durchgängigen Regulierung von Märkten und einem bröckelnden Fundament.

Ronald Gebauer, Hanna Petschauer, Georg Vobruba: Wer sitzt in der Armutsfalle? Selbstbehauptung zwischen Sozialhilfe und Arbeitsmarkt. edition sigma. Berlin 2002 (Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung; 40). 14,90 Euro.