Pressemitteilung 2020/148 vom

In der Corona-Krise sollen die Bundesländer weitgehend autark über die Lockerung von Beschränkungen entscheiden, aber auch eventuell wieder nötige Verschärfungen garantieren. Das haben die Ministerpräsidenten der Länder am Mittwoch (6. Mai) beim Corona-Gipfel mit Bundeskanzlerin Angela Merkel beschlossen. Dr. Hendrik Träger (38) vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig erläutert im Interview die strategischen Überlegungen hinter dem Vorpreschen einiger Bundesländer, die Rolle der Kanzlerin in diesem Machtgefüge sowie die Vorzüge und Nachteile des Föderalismus in Deutschland.

Viele der gestern von Bund und Ländern beim Corona-Gipfel beschlossenen weiteren Lockerungen der Beschränkungen sind vorher bereits veröffentlicht worden. Hat Kanzlerin Angela Merkel durch das zunehmende Vorpreschen der Länder an Autorität verloren?

Die Tatsache, dass bereits vor Beginn der Konferenzschaltung wichtige Punkte an die Öffentlichkeit durchgestochen wurden, lässt durchaus an der tatsächlichen Bedeutung solcher Konferenzen zweifeln. Bei dem Vorpreschen spielen wahrscheinlich strategische Überlegungen eine wichtige Rolle: Wenn medial über etwas berichtet wird, werden Tatsachen geschaffen, denn man kann schlechterdings einfach so in den „alten“ Zustand zurückkehren. Der Ministerpräsident eines Bundeslandes mit der Autoindustrie als wichtigem Wirtschaftszweig dürfte bestrebt sein, dass die Autowerke schnell wieder produzieren können, und wird deshalb einen entsprechenden Zeithorizont aufzeigen und nicht ohne jeglichen Terminvorschlag über das Thema sprechen. Analoges gilt für eine Ministerpräsidentin, deren Bundesland in besonderem Maße vom Tourismus abhängig ist.

Mit Blick auf die Autorität von Angela Merkel ist zu sagen, dass die Bundeskanzlerin nicht die Vorgesetzte der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten ist, sondern schlicht und einfach die Regierungschefin auf der Bundesebene ohne jegliche Befugnisse zum „Hineinregieren“ in die Bundesländer. Das ist eine völlig andere Situation als in einem zentralstaatlich strukturierten Land wie Frankreich, wo der Staatspräsident und die Regierung für alle Regionen und Departements verbindliche Entscheidungen treffen können. Dem Vernehmen nach hat Angela Merkel vor zwei oder drei Wochen in einer Gremiensitzung der CDU vor „Öffnungsdiskussionsorgien“ gewarnt und sich damit keinen Gefallen getan. In einer Demokratie gehört das Diskutieren zum Regieren; keine Entscheidung ist alternativlos! Insofern hat die Bundeskanzlerin ihren Fehler aus der Zeit der Eurorettungspolitik wiederholt. Ein solches Verhalten kann der eigenen Autorität mehr schaden als das Vorpreschen einzelner Landespolitiker oder der Umstand, sich in einem demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess nicht mit allen Positionen durchgesetzt zu haben.

Ist das Pochen des Bundes auf eine Obergrenze bei den Neuinfektionen als Bedingung für die Lockerungen ein letzter Versuch, die Fäden in der Hand zu behalten?

Bei einer Obergrenze für Neuinfektionen dürfte es weniger darum gehen, dass der Bund die Fäden in der Hand behält, sondern vor allem um eine Strategie für den nicht auszuschließenden Fall, dass es im Zuge der Lockerungen der Lockdown-Maßnahmen zu einem Ansteigen der Fallzahlen kommen könnte.

Welchen Sinn hat ein solcher Gipfel überhaupt, wenn jedes Bundesland eigene Regelungen trifft?

Solche Konferenzen dienen der Koordination zwischen den Bundesländern, aber nicht der Verkündung einer von „oben“ vorgegebenen Entscheidung. Die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten stellen auf ihren Treffen beziehungsweise Videokonferenzen ihre Positionen vor und diskutieren eventuell über eine mittel- und langfristige Strategie. Im besten Fall verständigen sie sich auf eine gemeinsame Linie, die nicht bereits nach wenigen Tagen wieder infrage gestellt wird. Je mehr Abweichungen es von der gemeinsamen Linie gibt, umso schwieriger wird es allerdings, Sinn und Zweck solcher Gipfel erklären zu können. In diesem Zusammenhang ist auch an die Verantwortung und die Vernunft der politischen Entscheidungsträger zu appellieren, das eigene Handeln nicht zu konterkarieren.

Welche Vorteile hat der Föderalismus in der aktuellen Situation?

Ein Leitspruch von föderalen Systemen wie unserem ist „Vielfalt in Einheit“ und bedeutet, dass nicht auf der nationalen Ebene alle Entscheidungen getroffen werden können. Dem Subsidiaritätsprinzip folgend sollen Entscheidungen auf der niedrigsten Ebene, die dazu in der Lage ist, getroffen werden – also entweder in den Kommunen, auf der Landesebene oder bundesweit. Auf diesem Prinzip basiert auch das Infektionsschutzgesetz, in dem die Zuständigkeiten der einzelnen Ebenen festgelegt sind. Dass bei Entscheidungen auf der Landesebene die jeweils spezifische Situation vor Ort berücksichtigt wird, entspricht der Logik eines föderalen Staatsaufbaus. Das gilt auch jenseits der Covid-19-Pandemie. Bei der inneren Sicherheit setzen zum Beispiel Bayern und Sachsen aufgrund ihrer geographischen Lage an staatlichen Außengrenzen andere Schwerpunkte als etwa Thüringen oder Hessen, die Binnenbundesländer sind.

Bei der Debatte über den Föderalismus in der Covid-19-Pandemie darf nicht vergessen werden, dass die Landesregierung gegenüber der Bevölkerung in ihrem Bundesland und nicht den 15 anderen Bundesländern gegenüber verantwortlich ist. So lässt sich unter anderem der Amtseid für die Staatsregierung in Artikel 61 der sächsischen Verfassung interpretieren. Es kann also nicht verwundern, dass beispielsweise der sachsen-anhaltische Ministerpräsident Reiner Haseloff früher als seine Amtskolleginnen und -kollegen über eine frühere Öffnung gastronomischer Einrichtungen nachdenkt, wenn in seinem Bundesland die Fallzahlen deutlich niedriger als andernorts sind. Nach Wochen des Lockdowns ist es irgendwann nicht mehr zu erklären, dass ein Biergarten beispielsweise in Magdeburg geschlossen bleiben muss, weil es in Berlin oder Köln mehr Infizierte gibt. Letztlich handelt es sich um einen erheblichen Eingriff in die wirtschaftliche Freiheit der Branche, die juristisch wasserdicht sein muss. Der Föderalismus bietet letztlich die Gelegenheit, etwas zeitversetzt die Lockdown-Maßnahmen zu lockern oder gänzlich aufzuheben, wenn das politisch verantwortet werden kann. Der Nachteil ist allerdings, dass dadurch auch Ungleichheiten entstehen können, die als Flickenteppich wahrgenommen werden.

Hinweis:
Dr. Hendrik Träger ist einer von mehr als 150 Experten der Universität Leipzig, auf deren Fachwissen Sie mithilfe unseres Expertendienstes zurückgreifen können.