Auch in diesem Sommer gab es neue Hitzerekorde, der Juli ist mit Abstand der wärmste Monat seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Im Jahr 2021 hat es den Nordwesten Kanadas getroffen: In Lytton herrschten dort Temperaturen von 49,6 Grad Celsius. Wie kommt es zu solchen extremen Temperaturen?
Sebastian Sippel: Der neue Temperaturrekord in Lytton ist in der Tat sehr bemerkenswert, denn der vor der Hitzewelle bestehende Temperaturrekord für das gesamte Gebiet Kanadas stammte aus den 1930er Jahren und betrug 45 Grad Celsius. Das bedeutet, dass ein lange bestehender Rekord auf ein Mal um fast 5 Grad Celsius übertroffen wurde!
Und auch in vielen anderen Regionen wurden in diesem Sommer und den vergangenen Jahren neue, extreme Temperaturrekorde verzeichnet. Ohne den Klimawandel wären diese „pulverisierten Rekorde“ sehr unwahrscheinlich. Doch selbst im Klimawandel sind solch extreme neue Hitzerekorde noch eher unwahrscheinlich, aber sie können eben auftreten. In einer Studie im Jahr 2021 konnten wir zeigen, dass solche extrem pulverisierenden Rekorde dann auftreten, wenn eine Kombination von physikalischen Ursachen, die Hitzewellen begünstigen und verstärken, zusammenkommen. Diese Ursachen sind zum Beispiel eine entsprechende Wetterlage und sehr trockene Böden, die wiederum die Hitze verstärken, und natürlich der fortschreitende Klimawandel.
Sie konnten in Ihrer aktuellen Studie zeigen, dass Rekordtemperaturen von über 50 Grad Celsius im Sommer auch in Europa möglich sind. Welche neuen Vorhersagemodelle liegen diesem Ergebnis zugrunde?
In der aktuellen Studie ging es uns um eine Risikoabschätzung: Wäre es möglich gewesen, vor dem Auftreten der Hitzewelle in Kanada im Jahr 2021 abzuschätzen, ob solche Extremtemperaturen aus physikalischer Sicht möglich sind? Und tatsächlich konnten wir zeigen, dass in physikalischen Klimamodellsimulationen solche Temperaturen möglich sind. Dazu haben wir Klimamodellläufe einige Wochen vor dem Auftreten von Hitzewellen angehalten und dann in vielen – neuen – Läufen diese Hitzewelle nachsimuliert, um so extreme Ereignisse besser zu verstehen. Auf diese Weise kann man tatsächlich zeigen, dass die fast 50 Grad Celsius in Kanada als Risikoabschätzung, also für den Worst-case, im Vorhinein hätten bestimmt werden können.
Behörden, Infrastruktur und auch Firmen müssen also darauf vorbereitet sein, dass solche Ereignisse auftreten können.
Wie konkret lassen sich solche extreme Hitzewellen für unsere Breiten vorhersagen? Können Sie beispielsweise Aussagen für den nächsten Sommer und eine bestimmte Region treffen?
Es ist wichtig zu betonen, dass es sich bei der neuen Technik nicht um eine (Wetter-)Vorhersage handelt. Wir können also nicht die Temperatur für den nächsten Sommer vorhersagen, und auch nicht, welche Region im nächsten Sommer besonders von Hitze betroffen sein wird.
Was bedeuten die Vorhersagen dieser Wort-Case-Szenarien für Städte, Gemeinden und die Politik an sich?
Es handelt sich um eine Risikoabschätzung: Wir zeigen also physikalische Szenarien auf, die möglich sind. Das ist wichtig, um möglichst auch auf noch nie dagewesene Ereignisse vorbereitet zu sein, denn Hitze ist ein großes Gesundheitsrisiko insbesondere für ältere und kranke Menschen. Beispiel Frankreich: Dort haben Hitzewellen in den vergangenen Jahren besonders stark zugenommen, und im Jahr 2003 sind etwa 15.000 Menschen aufgrund der Hitze gestorben. Die Behörden dort haben daraufhin Hitzeaktionspläne erstellt, und die Stadt Paris hat vor kurzem Szenarien geplant und durchgespielt, wie man bei extremen Temperaturen im Sommer von – möglicherweise – bis zu 50 Grad Celsius die Menschen schützen könnte.
Originalveröffentlichung in Nature Communications:
“Storylines for unprecedented heatwaves based on ensemble boosting”, DOI: 10.1038/s41467-023-40112-4
Studie von 2021 zu pulverisierenden Rekorden:
"Increasing probability of record-shattering climate extremes", DOI: 10.1038/s41558-021-01092-9
Jun.-Prof. Dr. Sebastian Sippel ist am Exzellenzclustervorhaben Breathing Nature im Rahmen der zweiten Wettbewerbsphase der Exzellenzstrategie von Bund und Ländern beteiligt. Sein Hauptforschungsinteresse gilt der Verbesserung des Verständnisses von Klimavariabilität, Extremereignissen und deren Veränderungen auf globaler und regionaler Ebene. Zu seinen Forschungsinteressen zählen auch die Auswirkungen globaler Klimaveränderungen auf den Wasser- und Kohlenstoffkreislauf und deren Wechselwirkungen. Der Großteil seiner Forschung ist eng mit der Attribution von Klimaänderungen verbunden. Er verwendet empirisch-quantitative statistische und maschinelle Lernverfahren, um diese Forschungsfragen anzugehen, und integriert verschiedene Klima- und geowissenschaftliche Datenströme, wie zum Beispiel Klimabeobachtungen und Klimamodellsimulationen.