„Besiege die Thrombo-Inflammation“ – so heißt der Titel des erfolgreichen Antrags, den Prof. Isermann beim europäischen Forschungsrat eingereicht hat. „Der Begriff klingt für die meisten Menschen sehr abstrakt, die Thrombo-Inflammation spielt aber bei nahezu allen Erkrankungen eine Rolle. Exemplarisch ist dies in der Covid-Pandemie deutlich geworden. Bei der Covid-Erkrankung stellte die virale Infektion selbst gar nicht das Problem dar. Die Leute sind an den Komplikationen, also der Thrombo-Inflammation, verstorben. Diese desaströse Erfahrung hat uns vor Augen geführt, dass wir bisher keine Therapie für die Thrombo-Inflammation haben“, erklärt Isermann.
Bei einer Erkrankung, oder auch bei der Heilung einer Wunde, werden immer zwei Prozesse im Blut aktiviert: Die Entzündung und die Gerinnung. „Der Wunsch, diese Mechanismen besser zu verstehen, hat mich schon meine ganze Karriere begleitet. In der Schwangerschaft entsteht zum Beispiel Thrombo-Inflammation in der Plazenta. Das gehört zur Schwangerschaft dazu. Aber wenn es unkontrolliert wird, dann bekommen die Patientinnen zum Beispiel Präeklampsie. Später habe ich das Thema bei chronischen Erkrankungen untersucht – etwa Nierenerkrankungen, Herzerkrankungen und Diabetes.“ Bei der Thrombo-Inflammation werden das Immunsystem und die Gerinnungskaskade aktiviert und verstärken sich gegenseitig. Wenn diese Prozesse wie bei Covid außer Kontrolle geraten, führt dies zu einer ungebremsten Entzündung und Gerinnungsneigung – unter Umständen mit tödlichen Folgen.
Mit molekularem Schalter Erkrankungen kontrollieren?
Es fehle bisher ein zentraler molekularer Mechanismus, der beide Vorgänge kontrolliert. „Wenn man sich den Vorgang evolutionär anschaut, ist zu erkennen, dass es ursprünglich eine Zelle gab, die beides kontrolliert hat. Erst später hat sich der Prozess genetisch in Gerinnung und Entzündung getrennt. Allerdings gibt es einen Faktor, der ist anders – er heißt Tissue-Faktor. Das ist der einzige Gerinnungsfaktor, der einen anderen Ursprung hat“, erklärt der Leipziger Labormediziner.
Das Team von Prof. Isermann hat kürzlich eine neue Eigenschaft von Tissue-Faktor in der Niere nachgewiesen. Die Wissenschaftler:innen konnten zeigen, dass Tissue-Faktor direkt mit einem wichtigen Entzündungsregulator einen Komplex bildet. Dieser Komplex ist ein molekularer Schalter, der die Thrombo-Inflammation „anschalten“ oder „ausschalten“ kann. „Dieser molekulare Schalter ist wie ein Scheitelstein in einem Torbogen, der beides – die Entzündung und die Gerinnung – zusammenbringt. Das ist genau der molekulare Mechanismus, den wir seit Jahren gesucht haben und der beides simultan reguliert“, so Isermann. Die Forschenden haben diesen aktivierten Schalter nicht nur bei verschiedenen Erkrankungen in der Niere, sondern auch beim Herzinfarkt im Tiermodell, bei Covid-Patient:innen mit schwerem Verlauf oder bei Erkrankten mit autoinflammatorischen Syndromen gefunden. Die Ergebnisse sind Anfang 2024 hochrangig publiziert worden. „Das bedeutet, wenn ich diesen Schalter ausmache, dann kann ich diese Erkrankungen vielleicht auch kontrollieren.“
Interdisziplinäres Team der Universitätsmedizin Leipzig involviert
Mit den finanziellen Mitteln des ERC Advanced Grant wollen Prof. Dr. Berend Isermann und ein interdisziplinäres Team der Universitätsmedizin Leipzig diesen molekularen Schalter in den nächsten fünf Jahren weiter untersuchen. Einige Forschungsfragen dazu sind: Wie wird der Schalter reguliert? Was kontrolliert der Schalter auf zellulärer Ebene? Welche Relevanz hat der Schalter in Mausmodellen für Herzkrankheiten, Übergewicht, oder Krebs? Wissenschaftliche Ansätze, die das Team verfolgen möchte, sind die Weiterentwicklung von analytischen Methoden, mit denen der Schalter beim Menschen „gemessen“ und mit Krankheitsverläufen in Verbindung gebracht werden kann, sowie die Entwicklung von neuen therapeutischen Ansätzen, die diesen molekularen „Schalter“ regulieren. „Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir einen Schalter gefunden haben, der in verschiedenen Krankheitsbildern eine relevante Rolle bei der Thrombo-Inflammation spielt. Wenn es uns gelingt, dies mit dem tollen Team aus den verschiedenen Fachbereichen der Universitätsmedizin Leipzig nachzuweisen und vielleicht auch therapeutische Ansätze zu entwickeln, dann wäre das schon ein Meilenstein“, sagt Berend Isermann.
Zur Person: Berend Isermann studierte Medizin in Würzburg, Bristol (England) und New Haven (USA). Nach seiner Approbation an der Universitätsklinik Heidelberg verbrachte er fünf Jahre als Forscher am Blood Research Institute in Milwaukee (USA). Zurück in Heidelberg erlangte er die Facharztbezeichnung für Innere Medizin, Endokrinologie und Labormedizin sowie Qualifikationen als Diabetologe und klinischer Chemiker. 2011 wurde er auf die Professur für Labormedizin der Universität Magdeburg, 2019 auf die Professur für Labormedizin der Universität Leipzig berufen.